15. Mai Nakba Gedenken

Queere Palästinenser*innen in Berlin: Diaspora ohne Staat

15. Mai 2025 Jara Nassar
Bild: Magdalena Vassileva
Demonstrant*innen bei der Internationalist Queer Pride in Berlin (2019)

Am 15. Mai gedenken Palästinenser*innen der Vertreibung aus ihrer Heimat, die sie als Nakba („Katastrophe“) bezeichnen. SIEGESSÄULE sprach mit Palästinenser*innen über ihre Erfahrungen

Auf dem Alfred-Scholz-Platz in Neukölln, wo sich das alte Rixdorf und die lebhafte Karl-Marx-Straße treffen, liegt das Mosaik „Meinstein“ der deutsch-tunesischen Künstlerin Nadia Kaabi-Linke. Jeder Stein symbolisiert eine in Neukölln ansässige Bevölkerungsgruppe, proportional zu ihrer Bevölkerungsanzahl. Ganz am südlichen Ende des Platzes liegen versteckt zwischen deutscher Grauwacke, polnischem Granit und türkischem Basalt mehrere Glassteine. Das Glas steht für die staatenlosen Bewohner*innen Neuköllns – das sind vor allem Palästinenser*innen und Rom*nja und Sinti*zze.

Berlin ist die Heimat der größten palästinensischen Gemeinschaft außerhalb der arabischen Welt.

Berlin ist die Heimat der größten palästinensischen Gemeinschaft außerhalb der arabischen Welt. Schätzungsweise über 30.000 Palästinenser*innen leben hier. Das Glas repräsentiert ihre fragile Lage: Als Staatenlose haben sie kaum Rechte. Dieser politische Limbo, in dem sich viele Palästinenser*innen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten befinden, wurzelt in der Nakba.

Nakba ist das arabische Wort für Katastrophe und bezeichnet die Vertreibung von mehr als 700.000 Palästinenser*innen aus ihrer Heimat im Zuge der Gründung Israels zwischen 1947 und 1949. Zionistische Streitkräfte, insbesondere die Haganah (Vorgängerin der israelischen Armee IDF) zerstörten und entvölkerten über 400 Dörfer und mehrere Städte, darunter auch Jaffa, um die Stadt anschließend Tel Aviv einzuverleiben.

Doppelt geflüchtet

Besonders ins Gedächtnis gebrannt hat sich das Massaker von Deir Yassin, ein palästinensisches Dorf fünf Kilometer westlich von Jerusalem. Die radikalzionistischen Milizen Irgun und Lechi – beide wurden nach der Staatsgründung Israels in die IDF einbezogen – griffen das Dorf trotz eines Nichtangriffsabkommens mit der jüdischen Gemeinde im benachbarten Givat Shaul an. Berichte über Vergewaltigungen, Verstümmelungen und öffentliche Hinrichtungen verbreiteten sich. Einige Dorfbewohner*innen wurden gefangen genommen und später getötet oder zur Abschreckung durch Jerusalem gefahren. Das Massaker hat Panik unter der palästinensischen Bevölkerung ausgelöst und war ein bedeutender Faktor, der viele Palästinenser*innen zur Flucht zwang.

Viele tragen noch die Schlüssel ihrer Häuser, die symbolisch für den Wunsch nach Rückkehr stehen.

Bis heute verwehrt Israel vertriebenen Palästinenser*innen völkerrechtswidrig die Rückkehr. Viele tragen noch die Schlüssel ihrer Häuser, die symbolisch für den Wunsch nach Rückkehr stehen. Zur Erinnerung an die andauernde Vertreibung und Entrechtung wird weltweit jedes Jahr am 15. Mai der Nakba-Tag begangen. Jamila ist die Enkelin einer Nakba-Vertriebenen. „Meine Großmutter wurde 1948 aus ihrem Haus in Jerusalem vertrieben. Sie ging mit ihrer Familie den ganzen Weg zu Fuß nach Jordanien.“ Dort lebte Jamila, bis sie 2022 nach Berlin kam. Sie ist trans, Softwaredesignerin, organisiert Treffen für trans Femmes und gibt Arabischkurse. Es ist ihre Methode des friedlichen Widerstands gegen Rassismus.

Die meisten Palästinenser*innen in Berlin sind doppelt Geflüchtete: Im Zuge des libanesischen Bürgerkriegs in den 1970ern und 80ern mussten Palästinenser*innen, die während der Nakba in den Libanon getrieben wurden, vor dem erneuten Ausbruch der Gewalt fliehen, darunter die israelische Invasion des Libanon und die Belagerung Beiruts. Sie bilden eine der größten Gruppen von Palästinenser*innen in Berlin. Wieder andere flohen während der Nakba oder Naksa, wie die Besetzung der restlichen palästinensischen Gebiete 1967 genannt wird, nach Syrien und zogen dann nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs weiter nach Berlin.

Bild: AlFestival Bazar
AlFestival Bazar in Berlin

„Meine Ex-Partnerin ist aus Syrien, also konnte sie nicht zu mir nach Palästina ziehen. Syrien wurde nach der Revolution unvorhersehbar, also war der Libanon unsere nächste Option. Als auch die bürokratische Lage im Libanon immer schwieriger wurde, gingen wir nach Berlin“, erzählt Leil. Sie ist Ende 30, aus Ramallah im besetzten Westjordanland, und arbeitete lange zu Frauen*- und Genderthemen, bevor sie zur Psychotherapeutin umschulte.

„Ich bin es leid, weiße Queers zu bilden.“

Vor dem 7. Oktober war sie politisch aktiv und versuchte der deutschen Linken die palästinensische Erfahrung zu erklären. „Ich bin es leid, weiße Queers zu bilden“, sagt sie dazu heute. Das Politische ist für die meisten Palästinenser*innen untrennbar von ihrer gelebten Erfahrung. Selbst wenn sie versuchen abzuschalten, hole sie die bittere Realität ein. Leil erinnert sich an einen Kinobesuch, bei dem vor dem Spielfilm Werbung lief, in der Israelkritik mit Antisemitismus gleichgesetzt wurde. Als es bei einem erneuten Besuch wieder passierte, kaufte sie sich einen Heimprojektor.

„Generell bin ich introvertierter geworden“, erzählt auch Jamila. Als Exilpalästinenserin wird ihr die Einreise nach Palästina verwehrt, sie kann die Heimat ihrer Großmutter nicht besuchen. Inzwischen kann sie noch nicht mal zurück nach Jordanien, wo der Rest ihrer Familie lebt. Jamila kam für ein Studium nach Berlin und beantragte dann Asyl. Doch mit ihrem Geflüchtetenstatus darf sie unter europäischem Recht nicht in ihr Heimatland zurückkehren, noch nicht mal für einen Besuch. Dann würde ihr die Rückreise nach Europa verwehrt – nicht nur nach Deutschland, sondern in die EU, lebenslang.

„Ich stecke in Deutschland fest“, sagt sie. Sie möchte geschlechtsangleichende Operationen durchführen, aber viele Ärzt*innen diskriminieren sie rassistisch. Wenn sie sich beschwert, entschuldigen sich die Verantwortlichen dafür, „dass sie sich so gefühlt hätte“. Ein tatsächliches Eingeständnis sieht anders aus. Verändert wird nichts. Mehrmals beauftragten Praxen Anwälte, die Jamilas negative Bewertungen online entfernen ließen.

Physische Gewalt ist ständiger Begleiter

Auch physische Gewalt gehört zur Erfahrung vieler Palästinenser*innen in Berlin. „Ich bin besser dran als viele meiner Freund*innen. Ich hatte keine gebrochenen Knochen, ich musste nie ins Krankenhaus. Ich saß bei einer Demo mal auf dem Boden, und ein Polizist fing an, auf mich draufzutreten, zuerst mit einem Bein und dann mit dem anderen“, erzählt Leil. „Die Erfahrung hat mein Vertrauen in die Menschlichkeit und in das deutsche System gebrochen.“ Die Gewalt kommt nicht nur von der Polizei. Jamila wurde mehrfach auf der Straße angegriffen, als sie ihre Kufiya trug. „Es liegt Gewalt in der Luft“, so Leil zur Stimmung in Berlin.

„Mir wurde gesagt, ich wäre in Deutschland sicher. Aber ich fühle mich nicht sicher. Vor allem nicht als Araberin.“

Sowohl Leil als auch Jamila betonen die politische Dimension ihrer Queerness. „Queere Menschen wissen, was es heißt, entmenschlicht, unterdrückt und als weniger wertvoll gesehen zu werden“, so Jamila. „Mir wurde gesagt, ich wäre in Deutschland sicher. Aber ich fühle mich nicht sicher. Vor allem nicht als Araberin.“

Queerness bedeute nach Alternativen zu den hegemonialen Lebensentwürfen zu suchen. „Meine palästinensische Identität überschneidet sich dort mit meiner Queerness, wo die Kritik an Heteronormativität und Patriarchat beginnt. Mit der Einstellung, gegen jegliche Diskriminierung zu stehen, gegen Gewalt und Missbrauch, kommt das Verständnis, dass Palästina frei sein muss“, sagt Leil. „Ich hoffe, deutsche Queers verstehen, wie diese Unterdrückungsmechanismen zusammenhängen, am besten, bevor jemand auf sie tritt.“

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