Interview mit Kurator*innen

Schwules Museum arbeitet sexualisierte Gewalt gegen Kinder auf

10. Okt. 2023 Manuela Kay & Kevin Clarke
Bild: Sergio Andretti
Kulturwissenschaftler Volker Woltersdorff (li.) und SMU-Vorstand Birgit Bosold

Das Schwule Museum behandelt in der Ausstellung „Aufarbeiten: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen von Emanzipation“ die Verstrickungen zwischen der Homosexuellen- und Jugendbewegung mit der Pädophilenszene. Ein Fokus liegt auf den Allianzen der 1970er- und 80er-Jahre sowie auf der eigenen Archivgeschichte. SIEGESSÄULE sprach mit zwei der vier Kurator*innen

Warum ist diese Ausstellung so wichtig? Volker Woltersdorff: Weil das Thema bisher wenig in unseren Communitys debattiert wurde. Diese Debatte wollen wir mit unserer Ausstellung anstoßen. Wir glauben, das Format „Ausstellung“ hat ein größeres Potenzial, kollektive Aufarbeitung anzuregen, als das bei wissenschaftlichen Studien der Fall ist, von denen es einige gibt. Eine Ausstellung ist nicht nur eine Kopfsache, sondern auch ein soziales Ereignis.

Was ist genau mit „Jugendbewegung“ gemeint? Woltersdorff: Gemeint ist die „bündische“ Jugendbewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts im Kontext der sogenannten Lebensreform entstand, z. B. der Wandervogel oder die Pfadfinder*innen. Jugend- und Homosexuellenbewegung haben beide einen stark emanzipatorischen Anspruch und waren vor allem in ihrer Entstehungsphase personell und ideologisch eng miteinander verwoben. Das war für uns der Grund, mit dem Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb) zu kooperieren. Innerhalb der Jugendbewegung gibt es schon seit 2010 einen Aufarbeitungsprozess, der unseres Erachtens weiter fortgeschritten ist als in der queeren Community.

„Innerhalb der Jugendbewegung gibt es schon seit 2010 einen Aufarbeitungsprozess, der unseres Erachtens weiter fortgeschritten ist als in der queeren Community.“

Wie waren die Verbindungslinien Anfang des 20. Jahrhunderts? Woltersdorff: Hans Blüher (1888–1955) hat argumentiert, dass beim Wandervogel, als dessen Chronist er sich sah, Homoerotik im Männerbund gelebt werden könne. Er hat sich gleichzeitig im Wissenschaftlich-humanitären Komitee engagiert, später wandte er sich davon ab und der Gemeinschaft der Eigenen zu. Das Modell von Päderastie war sowohl für einige in der Jugendbewegung als auch für einige in der Homosexuellenbewegung ein wichtiger Bezugsrahmen, der zur Legitimation sexualisierter Gewalt beigetragen hat. Die Gemeinschaft der Eigenen hat sich auf das antike Griechenland als Ideal bezogen, um Homosexualität zu rechtfertigen.

Muss man das aus heutiger Sicht anders bewerten als damals, wo solch eine „Klassizismus“-Argumentation vielleicht die einzige Möglichkeit war, Homosexualität gesellschaftlich zu rechtfertigen? Woltersdorff: Wir betonen, dass das nicht das einzige Modell war, um Homosexualität zu rechtfertigen. Es gab auch Alternativen, zum Beispiel Magnus Hirschfeld mit dem Dritten Geschlecht oder seinem Zwischenstufenmodell bzw. egalitäreren Formen gleichgeschlechtlicher Intimität. Grundsätzlich will die Ausstellung solche historischen Entwicklungen einer kritischen Neubewertung aus heutiger Sicht unterziehen.

In der Community heißt es jetzt: „Das Schwule Museum macht eine Pädo-Ausstellung.“ Rechnet ihr mit Protesten? Birgit Bosold: Das SMU-Team hat sich gut vorbereitet. Wegen der Serie von Angriffen auf uns arbeiten wir sowieso an Sicherheitskonzepten. Mindestens so wichtig ist aber die Sensibilisierung. Wir machen die Ausstellung ja auch für Betroffene. Wir arbeiten dafür mit der Beratungsstelle Tauwetter („Anlaufstätte für Männer*, die als Jungs sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren“) zusammen.

Was wird gezeigt? Bosold: Zentral für die Ausstellung sind die Perspektiven der Betroffenen mit Audios und Videos. In Bezug auf die historischen Exponate verzichten wir darauf, sexualisierte Körper von Kindern und Jugendlichen auszustellen, was in Kunst und Kultur ja relativ normal ist. Wir haben eine Präsentationsform gewählt, die den ästhetischen Genuss unterbindet und den Fokus darauf legt, zu dokumentieren. Wie wir das machen, möchten wir nicht verraten. Die Leute sollen ja in die Ausstellung kommen.

„Wir wollen sensibilisieren für Machtverhältnisse. Denn es geht um Machtmissbrauch, der dann entsteht, wenn es Machtgefälle gibt. Und die sind zwischen Kindern und Erwachsenen extrem ausgeprägt.“

Wie definiert ihr Kinder und Jugendliche? Woltersdorff: Wir erzählen die Geschichte der Rechtsentwicklung und erklären die juristischen Begriffe. Allerdings stellen wir auch klar, dass es mit der Einhaltung von Schutzaltersgrenzen nicht getan ist. Wir wollen sensibilisieren für Machtverhältnisse. Denn es geht um Machtmissbrauch, der dann entsteht, wenn es Machtgefälle gibt. Und die sind zwischen Kindern und Erwachsenen extrem ausgeprägt.

Rechnet ihr mit Schmähungen aus der Community, nach dem Motto: „Ihr macht das Fass wieder auf, dass alle Schwulen Pädos sind?“ Woltersdorff: Wir thematisieren natürlich in der Ausstellung dieses ja immer noch wirkmächtige Ressentiment. Denn es wirkt als Blockade für Aufarbeitung in der eigenen Community, weswegen viele das Thema lieber nicht anfassen wollen.

Wie kriegt ihr den Spagat hin zwischen sexueller Freiheit und Grenzüberschreitung? Woltersdorff: Sexuelle Freiheit ist nicht zu haben ohne sexuelle Sicherheit, sonst ist es nur die sexuelle Freiheit einiger weniger. Gerade in der schwulen Community gibt es relativ wenig Sensibilität für sexualisierte Gewalt, weil es da nie zu einer #metoo-Bewegung oder einem entsprechenden #Aufschrei kam, obwohl es genug Anlässe gab.

„Sexuelle Freiheit ist nicht zu haben ohne sexuelle Sicherheit, sonst ist es nur die sexuelle Freiheit einiger weniger.“

Warum sind gerade Schwule so unsensibel gegenüber diesem Thema? Woltersdorff: Ich glaube, das hat mit Männlichkeit zu tun. Es fällt schwulen Männern schwer, sich einzugestehen, Opfer sexualisierter Gewalt geworden zu sein. In ihrem Selbstbild wollen sie souverän über die Grenzen der eigenen Sexualität verfügen. Wenn das nicht so ist, empfinden das viele als beschämend. Und: Durch die Übersexualisierung der Schwulenszene entsteht ein sexueller Leistungsdruck. Der bringt viele dazu, Dinge hinzunehmen, die sie bei Lichte betrachtet nicht so gut finden würden.

Gibt es in der Ausstellung weibliche Opfer oder Täterinnen? Bosold: Wenn man sich das Hellfeld anschaut, also die verurteilten Fälle, dann sind drei Viertel der Opfer Mädchen und mehr als 90 Prozent der Täter*innen Männer. Die allermeisten sind übrigens keine „Pädophilen“ im Sinn einer ausschließlichen sexuellen Präferenz für Kinder. Doch das ist eigentlich nicht unser Thema: Es ist ja keine Ausstellung über Pädophilie oder sexuellen Missbrauch, sondern ein Projekt, das die historischen Allianzen der bündischen und queeren Bewegungen mit päderastischen Strömungen bzw. dem „Pädo-Aktivismus“ untersucht. Und diese gab es auch vonseiten der Lesbenbewegung.

Bild: Schwules Museum
Einst von der schwul-lesbischen Community als unproblematisch angesehene Werbung: Münchner CSD-Plakat von 1986 aus dem Archiv des Schwulen Museum

Was passiert nach der Ausstellung mit dem Material, das ihr zeigt: Kommt es in den Giftschrank? Volker Woltersdorff: Es geht nicht darum, irgendetwas zu „entsorgen“, sondern darum, neue und kritische Blicke darauf zu werfen. Und gemeinsam die Frage zu stellen, wie gehen wir mit diesem Erbe um. Wie wollen wir in Zukunft solche Materialien präsentieren? Wollen wir sie überhaupt präsentieren? Wie wollen wir unsere widersprüchliche Geschichte erzählen und wie stellen wir uns diesen Widersprüchen? Ich fände es falsch, sich den Widersprüchen dadurch zu entziehen, indem man einen bestimmten Teil einfach verleugnet.

Birigt Bosold: Den Prozess, sich selbst kritisch zur Disposition zu stellen und das auch zu wollen, halte ich für eine queere Geste, die gut zum Schwulen Museum passt.

„Aufarbeiten: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen von Emanzipation“,
kuratiert von Volker Woltersdorff, Tino Heim, Birgit Bosold (SMU), Susanne Rappe-Weber (Archiv der deutschen Jugendbewegung)
06.10.–26.02.2024
schwulesmuseum.de

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