Serbien im Aufbruch: Die Protestbewegung fordert eine Übergangsregierung

In Serbien hält weiterhin die große Protestbewegung an, die sich gegen Korruption und Autokratie im Land ausspricht. Sie formierte sich nach dem vermeidbaren Dacheinsturz am 1. November 2024 des Bahnhofs von Novi Sad. Aber werden in dieser Bewegung nun auch mehr Rechte für LGBTIQ* gefordert? Wir sprachen darüber mit der in Berlin lebenden Aktivistin Vera Kurtić
In Serbien erleben wir derzeit eine der größten Protestbewegungen weltweit. Wie schätzt du die Situation ein? Ich denke, was gerade passiert, ist von historischer Bedeutung. Vor allem, weil sich junge Menschen für eine bessere Zukunft und gegen das „System Vučić“ organisieren. Von jungen Leuten hatte das niemand erwartet, sie galten als politisch desinteressiert. Allerdings werden vor allem Studierende für ihr Engagement gefeiert, aber das Wirken zivilgesellschaftlicher Gruppen und der Opposition oft ignoriert. Diese haben die Weichen für die Bewegung gelegt.
Gibt es explizit queere und feministische Gruppen oder Forderungen gegen Diskriminierung? Das ist tatsächlich eine der Schwächen der Bewegung. Sie scheint es zu vermeiden, offen für Minderheitenrechte einzutreten oder sich klar gegen Diskriminierung zu positionieren. Zum Beispiel fand am 8. März wieder eine feministische Demo statt. Dieses Jahr kamen mehr Menschen, wegen der allgemeinen Aufbruchstimmung. Die Parolen waren trotzdem allgemein gehalten – wie „Gegen Gewalt“ oder „Für Respekt“. Das ist wichtig, doch es fehlen mutige, spezifische Forderungen.
„Demokratische Parteien müssen in Zukunft mutiger werden und sich für queere Rechte aussprechen, statt sich bei konservativen Wähler*innen anzubiedern.“
Was müsste passieren, damit die Bewegung erfolgreich ist – und LGBTIQ*-Rechte in Serbien gestärkt werden? Bei Minderheitengruppen gibt es die Angst, dass alles noch schlimmer wird und sie niemand schützt. Deshalb muss erst ein Umbruch geschehen, bevor ein Wandel angestrebt werden kann. Die Initiative für gleichgeschlechtliche Partnerschaften existiert seit über einem Jahrzehnt, aber es gibt keinerlei Fortschritt in Richtung einer gesetzlichen Regelung. Präsident Vučić hat entschieden, dass das Gesetz, das alle Verfahren durchlaufen und die Nationalversammlung zur Verabschiedung erreicht hatte, einfach nicht angenommen wird. Demokratische Parteien müssen in Zukunft mutiger werden und sich für queere Rechte aussprechen, statt sich bei konservativen Wähler*innen anzubiedern.
Es werden auch Neuwahlen diskutiert … Neuwahlen sind genau das, was das Regime will – unter den alten Wahlbedingungen. Bei uns sind Wahlen nie wirklich demokratisch. Bei den letzten Wahlen kamen Methoden zum Einsatz wie das Herbeischaffen von Wähler*innen aus der Republika Srpska (serbische Teil-Entität in Bosnien, Anm. d. Red.) oder Stimmenkauf aus der Rom*nja Gemeinschaft, die zu den marginalisiertesten Teilen der Bevölkerung gehört. Die Protestbewegung fordert keine neue Regierung, sondern eine Übergangsregierung – aus parteiunabhängigen Personen mit einem begrenzten Mandat, die sich nur der Schaffung fairer Wahlbedingungen widmen.
Glaubst du, dass der weltweite Rechtsruck auch Einfluss auf die Protestbewegung in Serbien haben könnte? Solche Entwicklungen gab es schon beim Sturz des Milošević-Regimes. Damals war die Opposition zwar breit aufgestellt, doch rechte Stimmen dominierten. Eine echte linke Kraft konnte sich nie etablieren. In Serbien zeigt sich zudem in Umfragen, dass viele junge Menschen überraschend konservativ sind. Es hat mich schockiert, als eine Studie zeigte, dass etwa die Hälfte der jungen Leute glaubt, häusliche Gewalt sei kein gesellschaftliches Problem. Ich denke, der Wandel wird sehr langsam kommen – und nur, wenn das Regime gestürzt wird. Für Veränderung braucht es eine echte demokratische Grundlage.
„Wir haben das Gefühl, in unserem Kampf allein zu sein. Die Zivilgesellschaft in Deutschland kann das Bewusstsein für die Probleme schärfen, indem sie sich an Soli-Demos beteiligt.“
Wie kann die internationale Gemeinschaft helfen? Die Zivilgesellschaft in Europa und Deutschland sollte ihre Regierungen stärker zur Verantwortung ziehen – besonders in Bezug auf die Unterstützung des autoritären Regimes in Serbien. Die EU betrachtet Vučić beispielsweise als „Stabilitätsfaktor“, wirtschaftliche Interessen – etwa der Zugang zu Rohstoffen für die Autoindustrie – stehen im Vordergrund. Es ist wichtig, dass das Regime merkt, Gewalt und Korruption werden nicht toleriert. Wir haben das Gefühl, in unserem Kampf allein zu sein. Die Zivilgesellschaft in Deutschland kann das Bewusstsein für die Probleme schärfen, indem sie sich an Soli-Demos beteiligt. In Berlin gab es schon etliche solcher Demonstrationen. Wenn nicht nur Menschen aus Serbien und aus der ex-jugoslawischen Diaspora ihre Solidarität zeigen, dann wäre das ein starkes Zeichen.
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