Kolumne: Sex-Positionen

Wenn sexpositiv zur neuen Norm wird: Wir brauchen Raum für Unlust

4. Juli 2025 Lea Holzfurtner
Bild: Lea Holzfurtner
Lea Holzfurtner ist klinische Sexologin und Autorin und beschäftigt sich täglich mit dem Thema Sex, Lust und Liebe

Es klingt so gut: Sexpositiv sein, sich nicht mehr schämen zu müssen. Für Lust. Für Fetische. Für Polyamorie. Für queeres Begehren. Für den eigenen Körper. Für viele ist das ein Befreiungsschlag. SIEGESSÄULE-Autorin Lea Holzfurtner zeigt aber auch die andere Seite: Es entstehen neue Normen, die genauso viel Druck auslösen können

Für viele ist die sexpositive Bewegung ein Durchbruch: feministisch, queer, laut und lustvoll. Und gerade hier in Berlin ist sie – lucky us – sehr präsent. Aber dazwischen erzählen mir immer wieder Klient*innen oder Kolleg*innen von einem seltsamen Widerspruch. Sie sagen Sätze wie: „Ich bin eigentlich sexpositiv, aber ich fühle mich oft unter Druck, nicht sexpositiv genug zu sein. Nicht offen genug zu sein. Die Anfängerin unter all den Profis zu sein.“ Oder: „Ich bin in der sexpositiven Szene und oft auf Partys, aber ich habe keine Lust dort zu spielen. Mich stresst das.” Und auch: „Ich bin die einzige in meinem Freundeskreis, die einfach nur eine Beziehung will mit einem Lieblingsmenschen. Ich trau mich nicht, das auszusprechen.”

Eine sexpositive Norm entsteht

Das Versprechen der Sexpositivität ist feministisch, radikal und empowernd: das Recht auf Lust, auf Selbstbestimmung, auf Abweichung vom heteronormativen Standard. Oft verbunden mit Kinks, ethischer Nicht-Monogamie und inklusiver Liebe. Dass all das erlaubt sein soll, fühlt sich für manche trotzdem nicht gut an. Der sexpositive Lebensstil wird zur vermeintlich unerreichbaren Norm. Eine neues Ideal, das anscheinend genauso viel Druck auslösen kann wie die alten sexnegativen Skripte, in denen Sexualität in einen sehr, sehr kleinen heteronormativen Rahmen gequetscht war.

Wenn die Art von Sex, die wir genießen, nicht mehr dem monogamen, missionarstellungsliebenden, heteronormativen Skript entspricht, ist das nun in einer immer größeren Community kein großes Ding mehr. Jetzt geht’s eben darum, „sexpositiv genug“ zu sein. Aber braucht es wirklich so viel für Sexpositivität?

Sex sollte kein Ort der Scham sein, sondern ein Ort der Macht. Nicht im Sinne von Dominanz über andere, sondern als Ermächtigung über den eigenen Körper.

Die sexpositive Bewegung entstand ursprünglich als Antwort auf sexualfeindliche Tendenzen im Feminismus der 1970er und 80er Jahre, im Zuge der sogenannten „Feminist Sex Wars“. Während einige feministische Strömungen Pornografie, BDSM und promiskuitive Sexualität grundsätzlich als patriarchale Gewalt kritisierten, regte sich Widerstand: sexpositive Feminist*innen forderten, dass alle Geschlechter das Recht auf sexuelle Lust, Vielfalt und Selbstbestimmung haben. Sex sollte kein Ort der Scham sein, sondern ein Ort der Macht. Nicht im Sinne von Dominanz über andere, sondern als Ermächtigung über den eigenen Körper, das eigene Begehren und die eigenen Grenzen. Queer weiterentwickelt ist Lust Widerstand gegen Heteronormativität, gegen binäre Geschlechterrollen, gegen das medizinische Stigma von behinderten Körpern. Das war und ist radikal.

Unter Sexpositivität wird heute vor allem verstanden, sexuelle Orientierungen, Vorlieben und Wünsche, sowohl die eigenen als auch anderer Menschen, vorbehaltlos anzunehmen. Gegenseitiges Einvernehmen vorausgesetzt. Das wäre erstmal alles, was es braucht, um in den Club der Sexpositiven aufgenommen zu werden. Für mich als Sexologin bedeutet Sexpositivität aber auch, Sex als einen integralen Bestandteil der menschlichen Gesundheit zu sehen. Auch hier stimmen mir meine Klient*innen schnell zu.

Woher kommt das Gefühl, nicht sexpositiv genug zu sein?

In der Welt der Sexfluencer*innen wird Lust oft in perfekten Karussell-Postings kuratiert: „5 Tipps für perfektes 🍑Spiel (=Analsex)“, „Warum du deine Scham ablegen musst“, „GRWM für eine 🌶️Party (=Sexparty)“. Ich höre immer wieder, dass ein „Nein“ zu bestimmten Praktiken oder offenen Beziehungen in einigen Communitys als unreflektiert oder verklemmt gewertet wird.

Offline Workshops und Retreats entstehen sicherlich oft wohlmeinend, sind experimentell, empowernd – aber sie sind nicht automatisch frei von Druck. Freiheit wird performt, aber anscheinend nicht immer von allen gefühlt. Um verschiedene Partner*innen gleichzeitig zu daten, sich durch diverse Sexpartys zu spielen oder sie zu organisieren, ein neues Sextoy auf den Markt zu bringen oder eine App gegen Unlust zu veröffentlichen, braucht es nicht zwangsläufig ein sexpositives Mindset. Aber wir schreiben diesen Personen genau das unhinterfragt zu. Schließlich arbeiten sie ja daran, Tabus zu durchbrechen, Stigmata aufzulösen und uns echte Wahlfreiheit zu erkämpfen. Und wir orientieren uns an ihnen.

Heute wird „sexpositiv“ oft zur neuen Norm – was fantastisch ist - bringt dabei aber leider auch wieder neue unrealistische Erwartungen mit sich.

Sexpositiv zu sein bedeutet nicht, jeden Fetish, jede Beziehungsform und Partner*innen aller Geschlechter als Sexpartner*innen ausprobiert zu haben. Die sexpositive Bewegung war ursprünglich radikal befreiend, weil sie Lust aus der Schamzone holte. Doch heute wird „sexpositiv“ oft zur neuen Norm und bringt dabei aber leider neue unrealistische Erwartungen mit sich. Damit kann sie neue Anforderungen stellen: Du sollst offen sein. Du sollst wollen. Du sollst Grenzen überwinden. Du sollst über alles reden können. Das ist nicht mehr nur Empowerment. Das ist manchmal auch sanfter Zwang. Zumindest fühlt es sich für manche Menschen so an. 

Raum für Unlust

Um wirklich sexpositiv zu sein, im ursprünglichen, radikalen Sinn, brauchen Communitys mehr als Zustimmung zu „mehr Sex“. Es braucht auch Raum für all das, was nicht passt, nicht glänzt, nicht sexy ist. Zum Beispiel auch Raum für Unlust: Nicht als Defizit, sondern als legitimer Zustand. Unlust kann Schutz sein. Oder Selbstfürsorge. Oder einfach das, was gerade da ist. Und Raum für diejenigen von uns, die gar keine sexuelle Anziehung empfinden. Oder diese nur in ganz bestimmten Situationen spüren. Denn Asexualität ist nicht automatisch gleichbedeutend mit dem Fehlen von Sex oder dem Verzicht auf Sex, auch wenn wir es oft damit assoziieren.

Es geht nicht darum, jede Spielart sexy zu finden. Das ist falsch verstandene Sexpositivität. Es geht nicht darum, zu allem „Ja“ zu sagen oder alles einmal ausprobiert zu haben. Kein neuer Druck. Keine neue Norm. Sondern eine Erlaubnis, anders zu sein, seine Sexualität und Beziehungen nach eigenen Wünschen zu verhandeln, egal ob monogam und vanilla oder offen und kinky. Solange es die eigene Entscheidung ist.

Sexpositivität ist nur dann feministisch, wenn sie auch Platz lässt für Grenzen. Wenn sie nicht sagt: „Du kannst alles“, sondern auch: „Du musst gar nichts.“ Ein echtes Recht auf Lust heißt auch: das Recht auf Unlust. Auf Pausen. Auf Langsamkeit. Und auch mal auf ein „Nö“ dazu.

Lea Holzfurtner (@sexcoach.berlin) ist klinische Sexologin und Autorin von „Dein Orgasmus”. In ihrer Berliner Praxis und im Podcast „Berlin Intim“ coacht sie Menschen mit Klitoris und deren Partner*innen.

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