Zukunft statt Spaltung: Wie die Nahost-Debatte die Community zerreißt

Der Gaza-Krieg zerreißt die Berliner LGBTIQ*-Community. Auf Partys, in Gruppenchats oder bei Vereinstreffen lautet die Gretchenfrage: Wie positionierst du dich zu Israel/Palästina? Wie kann die Community bei all den verhärteten Debatten um Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, Repression, Propaganda und Staatsräson wieder zusammenkommen? Der Versuch einer Annäherung
Es ist ein mittlerweile gängiges Klischee, wenn in der LGBTIQ*- Community über Israel/Palästina diskutiert wird, egal ob in der Kneipe oder in der Kommentarspalte: Äußert sich jemand kritisch über israelische Kriegsverbrechen, die deutsche Staatsräson, die Entmenschlichung von Palästinenser*innen oder zeigt sich anders palästinasolidarisch, lautet die Antwort schnell: „Dann fahr doch mit deiner Regenbogenfahne nach Gaza!“ Dort, so die Gegenseite, wirst du schon sehen, wie das Hamas-Regime queere Menschen verfolgt. Auffällig an diesem Wortwechsel ist vor allem, dass er jedes weitere konstruktive Gespräch unmöglich zu machen scheint.
Statt über verletzte Menschenrechte (queerer) Palästinenser*innen zu sprechen, statt über antiarabischen Rassismus und israelbezogenen Antisemitismus zu sprechen, endet hier die Debatte.
Statt tatsächlich über verletzte Menschenrechte queerer und nicht queerer Palästinenser*innen zu sprechen, über Israels unleugbare Rolle darin – und auch die der Hamas –, statt tatsächlich über antiarabischen Rassismus und israelbezogenen Antisemitismus zu sprechen, endet hier die Debatte – Kritik wird kategorisch abgewürgt.
Aber geht das auch anders? Kann die LGBTIQ*-Community einen anderen Umgang mit dem Nahostkonflikt, der schon weit vor dem 7. Oktober 2023 linke und queere Szenen spaltete, entwickeln? Um sich einem Lösungsansatz für diese Herkulesaufgabe anzunähern lohnt es sich, mit Menschen zu sprechen, die Koexistenz und jüdisch-arabische Solidarität in ihrem Alltag leben: Oz Ben David leitet gemeinsam mit Jalil Debit das israelisch-palästinensische Restaurant Kanaan in Prenzlauer Berg. Mittlerweile leiten sie zusätzlich Koch- und Kommunikationsworkshops für Schulen und Organisationen.
Seit dem 7. Oktober 2023 waren sie immer wieder Ziel von Anfeindungen und Vandalismus. „Doch bereits vor dem Massaker am 7. Oktober gab es Angriffe des israelischen Militärs auf Orte in Syrien, Gewalt gegen Palästinenser*innen und Terrorakte gegen Israelis, von denen Familien unserer Teammitglieder betroffen waren“, erklärt Ben David gegenüber SIEGESSÄULE. „Die Ereignisse des 7. Oktober waren im Grunde der Punkt, an dem sich alles, was wir bis dahin aufgebaut hatten, bewährt hat. Wir wussten bereits, wie man traumatische Erfahrungen zusammen verarbeitet.“
Empathie ist zentral
Das Kanaan-Team lernte dank seiner unterschiedlichen Backgrounds und Perspektiven: Empathie entsteht oft durch banale Themen. Wenn beispielsweise der syrische Koch mit Fluchterfahrung mitbekommt, dass die trans Kellnerin aufgrund ihrer Identität die gleichen Schwierigkeiten hat, eine Wohnung zu finden, entsteht eine gemeinsame Basis.

Selbst wenn man sich nicht auf die Vergangenheit einigen könne, ist er sich sicher, dass man sich auf eine Zukunft einigen kann.
Man müsse Menschen mit bereits verhärteten Positionen „Raum und Zeit geben, einander zu entdecken“, sagt Ben David. Man könne Menschen ohnehin nicht mit aufgezwungenen Regeln zum Umdenken bewegen. Für ihn sind das bequeme Methoden mit wenig Effekt. Er fragt: „Was bringt es mir als Jude, wenn Geflüchtete und Einwander*innen jetzt ein Bekenntnis zum Staat Israel unterschreiben sollen?” Man müsse Erkenntnisse in Debatten erreichen. Selbst wenn man sich nicht auf die Vergangenheit einigen könne, ist er sich sicher, dass man sich auf eine Zukunft einigen kann.
Für eine gemeinsame Zukunft kämpft auch die israelische Graswurzelorganisation Standing Together – das wahrscheinlich bekannteste Beispiel für israelisch-palästinensische Solidarität. Gegründet wurde die Initiative vor zehn Jahren als eine Allianz aus jüdischen und arabischen Israelis, die sich für ein Ende der Besatzung und eine gemeinsame, friedliche Zukunft einsetzen.
SIEGESSÄULE sprach mit dem Gründer Alon Lee Green in Tel Aviv. Zwei Tage vor dem Telefoninterview hatte die ultranationalistische Regierung unter Benjamin Netanjahu, am Tag des Tel Aviv Prides, Ziele in Iran ins Visier genommen – daraufhin wurde der CSD abgesagt.
Green hatte am 4. Juni den Pride in Jerusalem besucht und war, wie auch die anderen Demonstrant*innen im Antikriegsblock, massiver Polizeigewalt ausgesetzt gewesen. Trotz Drohungen und Repressionen plante Standing Together, auch beim Tel Aviv Pride auf die Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in Gaza aufmerksam zu machen. Regelmäßig demonstrierte er mit zahlreichen Israelis an der Grenze zu Gaza gegen die Blockade der Hilfslieferungen. Durch die Bombardements verstummen nun auch die Proteste von Standing Together vorerst – zumindest auf den Straßen Israels.
Vorurteile, Verletzungen und Visionen
Auch Jouanna Hassoun von Transaidency e.V. kämpft unermüdlich für eine bessere Zukunft. Als Tochter palästinensischer Geflüchteter in dritter Generation ist sie seit über 17 Jahren als Menschenrechtsaktivistin und politische Bildnerin tätig – mit einem Schwerpunkt auf Israel-Palästina, Antisemitismus, antimuslimischem Rassismus und dem Empowerment marginalisierter Gruppen. Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet und ist heute relevanter denn je. Kurz nach dem 7. Oktober reiste sie gemeinsam mit dem jüdischen Aktivisten Shai Hoffmann durch Schulen in ganz Deutschland. Gemeinsam initiierten sie sogenannte Trialoge, die es jungen Menschen ermöglichen, über Israel-Palästina zu sprechen, zuzuhören, zu fühlen und Widersprüche auszuhalten.
Darüber hinaus schafft sie mit Projekten wie Build Bridges Not Barriers sowie SAWA Räume für Dialog und kollektive Resilienz. Build Bridges Not Barriers bringt jüdisch-muslimische Tandems zusammen, um gemeinsam über Vorurteile, Verletzungen und Visionen zu sprechen. SAWA richtet sich gezielt an palästinensische Menschen – als Raum für Austausch, Empowerment und das gemeinsame Ringen um Sprache, Trost und Stärke. Gleichzeitig koordiniert sie humanitäre Hilfe für Familien in Gaza und Ägypten – getragen von einem Netzwerk freiwilliger Helfer*innen vor Ort.
Ihre Resilienz ist ein Zeugnis von Menschlichkeit und davon, was möglich ist, wenn Mitgefühl und Verantwortung stärker sind als Ohnmacht.
Trotz der andauernden Blockade durch Israel gelingt es Transaidency, durch lokale Strukturen Grundnahrungsmittel und Wasser zu beschaffen und an Bedürftige zu verteilen. „Angesichts der großen Not ist unser Beitrag klein“, sagte Hassoun in einem Interview mit der Zeit. Doch es ist dieser kleine Beitrag, der Leben rettet, Hoffnung stiftet und den Menschen zeigt: Ihr seid nicht allein. Ihre Resilienz ist ein Zeugnis von Menschlichkeit und davon, was möglich ist, wenn Mitgefühl und Verantwortung stärker sind als Ohnmacht.
Die Familie von Rami (Name geändert) lebt in Haifa und sucht wie Alon Lee Green Zuflucht vor den iranischen Raketen. Rami selbst kam vor 15 Jahren als Student nach Berlin und blieb, weil er die Diskriminierung als queerer Palästinenser trotz israelischer Staatsbürgerschaft nicht mehr ertragen konnte. Er will anonym bleiben, aus Angst vor Repression.
In seinem Job in einem Berliner Krankenhaus wurde er Zeuge, wie Ärzt*innen, die sich öffentlich Palästina-solidarisch geäußert hatten, abgemahnt wurden. Die Angst, mit der eigenen Geschichte auf Unverständnis zu stoßen, herrscht bei vielen Palästinenser*innen.
„Wir brauchen wieder Räume, in denen die Geschichten der Palästinenser*innen nicht verdrängt werden“, fordert Rami. Für viele aus der queeren arabischsprachigen Diaspora in Berlin sind Events wie die des Partykollektivs Adira zu wichtigen Treffpunkten geworden. Zu Safer Spaces, in denen arabische Popkultur gefeiert werden kann und Solidarität mit Palästina nicht pauschal als antisemitisch abgestempelt wird.
Solidarität statt Repression
In diesem Spannungsfeld zwischen Alltag und Ausnahmezustand bewegen sich derzeit viele queere Jüd*innen und Palästinenser*innen in Berlin. Die Spaltung aufgrund des Nahostkonflikts spiegelt sich auch in der Berliner Clublandschaft wieder. Der Technoclub about blank in Friedrichshain, der der antideutschen Linken nahesteht, versteht sich als Safer Space für Jüd*innen, was jedoch oft zum Ausschluss propalästinensischer Personen führt.
Schon 2018 kappte der Club die Zusammenarbeit mit dem Kollektiv Room 4 Resistance, nachdem dieses palästinensische DJs unterstützt und sich der Kampagne #DJsForPalestine angeschlossen hatte. Seitdem gilt der Club insbesondere in BIPoC- und Palästina-solidarischen Szenen nicht mehr als Safer Space. 2024 veröffentlichte die Club-Crew zwar ein Statement, in dem sie interne Meinungsverschiedenheiten zum Staat Israel einräumt und betont, der Konflikt lasse sich „nicht auf dem Dancefloor lösen“ – für viele queere BIPoC ist das jedoch zu wenig. In der Folge meiden zahlreiche migrantische Partykollektive den Raum weiterhin bewusst.
Der Gretchen Club auf der anderen Seite, Konzertlocation und auch Ort für queere Partys in Kreuzberg, stand zunächst in der Kritik für die Absage eines geplanten Konzerts der irischen Postpunk-Band The Murder Capital – offenbar wegen einer Palästinaflagge –, reagierte nach einem Gespräch mit dem queeren arabischen Adira-Partykollektiv mit einer Entschuldigung. In einem Statement erkannte das Club-Team die Bedeutung der Flagge an: „Für unzählige Menschen ist sie nicht nur ein nationales Symbol, sondern ein Zeichen des Widerstands und ein Ruf nach Freiheit – sie verweist auf das unerträgliche zivile Leid und die humanitäre Not in Gaza.“

Die Adira-Party konnte daraufhin wie geplant im Club stattfinden. Immer wieder wird Aktivist*innen in vermittelnden Rollen abwechselnd vorgeworfen, sich nicht deutlich genug gegen den Völkermord in Gaza oder für die Befreiung der israelischen Geiseln auszusprechen. Es herrscht ein Verlust von Vertrauen, Solidarität und Ambiguitätstoleranz.
Queere Jüd*innen geraten unter doppelten Beschuss: Kritisieren sie Israels Politik, nennt man sie schnell „selbsthassende Antisemiten“; solidarisieren sie sich mit den israelischen Geiseln, gelten sie als „zionistische Faschisten“. Gleichzeitig erleben viele arabische und Palästina-solidarische Menschen, dass ihre Stimmen in Deutschland systematisch marginalisiert werden. Oft wird ihnen gar nicht erst zugehört, weil sofort der Vorwurf der Terrorverharmlosung im Raum steht.
Dieses vergiftete Klima wird in Deutschland zusätzlich durch die reflexhafte Gleichsetzung von Judentum mit der Regierung in Israel verschärft. Eine Interpretation, die weder jüdischen noch palästinensischen Sichtweisen gerecht wird und antisemitische sowie antimuslimische Ressentiments eher verstärkt als abbaut.
„Die deutsche Bevölkerung muss sich im Klaren darüber sein, dass ihre Regierung rechtsextreme Politiker*innen in Israel unterstützt.“
„Ich habe keine zweite Staatsbürgerschaft”, sagt Alon Lee Green zwei Tage nach den israelischen Gefechten mit Iran. „Ich habe kein zweites Zuhause. Ich weiß nicht, wann und wohin ich gehen würde, wenn alles schlimmer wird.” Er will weiterkämpfen. Sein Appell: „Die deutsche Bevölkerung muss sich im Klaren darüber sein, dass ihre Regierung rechtsextreme Politiker*innen in Israel unterstützt. Das dürft ihr nicht mehr zulassen.“
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