Kollektives Gedächtnis: Queere Geschichte muss bewahrt werden
Um queere Geschichte zu bewahren und in der Stadt für alle sichtbar zu machen, muss an verdienstvolle und wichtige LGBTIQ* öffentlich erinnert werden. Doch entsprechende Straßenbenennungen, Ehrengräber, Gedenktafeln oder Stolpersteine sind alles andere als selbstverständlich
Magnus Hirschfeld hat es geschafft: Nach ihm sind nicht nur eine Bundesstiftung und ein Uferweg benannt. Eine Gesellschaft hält sein Leben und Werk lebendig, an seinem Wohnhaus und am einstigen Standort seines Instituts für Sexualwissenschaften informieren Stelen, und zu seinem 150. Geburtstag gab es sogar eine Sonderbriefmarke. Mehr öffentliche Würdigung geht kaum. Doch nicht an alle queeren Vorbilder und Persönlichkeiten wird auf solche Weise erinnert. Dass im Oktober in Friedrichshain eine Straße nach der 1989 verstorbenen lesbischen Sozialistin und Antifaschistin Freia Eisner benannt wurde, ist keine Selbstverständlichkeit. 1983 hatte die Partei Alternative Liste beantragt, die Schöneberger Einemstraße umzubenennen – erfolglos. Der Name des preußischen Kriegsministers und Wegbereiters des Nationalsozialismus, Karl von Einem, sollte durch Karl Heinrich Ulrichs ersetzt werden. Es sollte dann 30 Jahre dauern, bis der Vorkämpfer der Homosexuellenemanzipation zu einer offiziellen Adresse im Regenbogenkiez wurde.
Freia Eisner, Magnus Hirschfeld und Karl Heinrich Ulrichs gehören zu den wenigen LGBTIQ*-Persönlichkeiten, die – wie es der Deutsche Städtetag in einer Handreichung Fotos: Gemeinschaftsgrab für Menschen mit HIV/ Aids, Alter St.-Matthäus-Kirchhof; Stolpersteine für Alice Carlé und ihre Schwester, Beuthstraße; Gedenktafel für die lesbische Aktivistin Lotte Hahm, Hasenheide; Grab von Frauenrechtlerin Helene Lange und Lebensgefährtin, Friedhof Charlottenburg, Trakehner Allee; die nach der lesbischen Aktivistin und Poetin Audre Lorde umbenannte Straße in Kreuzberg (v. l. n. r. im Uhrzeigersinn) zu Straßenbenennungen formuliert – auf diese Weise „im kommunikativen Gedächtnis“ der Bürger*innen verankert wurden. Weil von den 10.000 Straßen Berlins derzeit nur wenige Hundert nach Frauen benannt sind, haben die Bezirke bereits vor einigen Jahren beschlossen, bei Um- und Neubenennungen bis auf Weiteres Frauen verstärkt zu bedenken. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg will zudem LGBTIQ*-Personen verstärkt berücksichtigen. Die Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung hat bereits 2015 in einer Broschüre 35 Personen vorgestellt, die zwischen 1825 und 2020 in Berlin lebten oder wirkten und als erinnerungswürdig erachtet werden.
Trans* Personen fehlen bislang völlig
Tatsächlich blieb es nicht nur bei Absichtserklärungen. Nach Rio Reiser und Audre Lorde wurden seither Straßen oder Plätze benannt. Hilde Radusch bekam in der Eisenacher Straße eine aufwendige Gedenkstätte, Lotte Hahm im vergangenen Jahr eine Gedenkstele in der Hasenheide. Die anderen vorgeschlagenen Personen warten noch auf eine dauerhafte öffentliche Würdigung. Vor allem aber fehlen trans* Personen in der öffentlichen Erinnerung bislang völlig. Dabei gäbe es mit der Malerin Toni Ebel, Hirschfelds Mitarbeiterin Dora Richter oder der dänischen Künstlerin Lili Elbe gleich drei trans Pionierinnen, deren Leben eng mit Berlin verbunden ist. Es muss auch nicht immer eine Straßenbenennung sein, vieles bietet Möglichkeiten, das Lebenswerk oder die Lebensgeschichte von Menschen lebendig zu halten.
Wichtige Menschen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, kann auch bedeuten, deren letzte Ruhestätten zu bewahren. Denn auch sie können Erinnerungs- und sogar Mahnorte sein, wie das Grab von Ella Nik Bayan.
So erinnern im Stadtgebiet derzeit 3.678 Gedenktafeln an Personen, Orte und historische Ereignisse. Am bekanntesten sind sicherlich die weißen KPM-Porzellantafeln an ehemaligen Wohnorten. Doch gerade mal zwei Dutzend dieser Gedenktafeln erinnern an queere Personen, zum Beispiel an Marlene Dietrich, Oskar Pastior und Käthe Kollwitz. Einen Bezug zur nicht-heterosexuellen Lebensweise in den Inschriften gibt es jedoch nur bei einer Handvoll Tafeln, etwa bei Bruno Balz, Kurt Hiller, Herman Bang und Helene Lange. Wichtige Menschen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, kann auch bedeuten, deren letzte Ruhestätten zu bewahren. Denn auch sie können Erinnerungs- und sogar Mahnorte sein, wie das Grab von Ella Nik Bayan beweist, die sich 2021 auf dem Alexanderplatz verbrannte. Es wurde bereits fünfmal geschändet. Der Hass, den die trans Frau in den Suizid trieb, wirkt selbst über ihren Tod hinaus. Kaum eine deutsche Stadt hat eine so umfangreiche Friedhofskultur wie Berlin. Und wenig überraschend finden sich zwischen Köpenick und Zehlendorf einige Hundert Grabstätten bedeutender queerer (Szene-)Persönlichkeiten. Am besten besucht sind sicherlich jene von Rio Reiser auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof und das von Marlene Dietrich auf dem Friedhof Stubenrauchstraße. Beides sind Ehrengräber, die der Senat für mindestens 20 Jahre sichert und auch die Pflege übernimmt.
Gemeinschaftsgrab für Menschen mit HIV/Aids
Aktuell gibt es 683 solcher Ehrengräber. Zuletzt wurden 2021 zehn neue anerkannt, darunter die Gräber von Reiser und des Filmhistorikers Karsten Witte. Damit hat sich die Zahl der Ehrengräber von queeren Persönlichkeiten auf gerade mal zwölf erhöht. Sollten in Berlin tatsächlich nicht mehr LGBTIQ*-Personen bestattet worden sein, die – so die Anforderung – „zu Lebzeiten hervorragende Leistungen mit engem Bezug zu Berlin erbracht oder sich durch ihr überragendes Lebenswerk um die Stadt verdient gemacht haben“? Viele Gräber drohen tatsächlich zu verschwinden. Denn das Nutzungsrecht für Grabstellen läuft in der Regel nach 20 Jahren ab. So wurden viele Grabstätten schwuler Männer, die in der Hochphase der Aidskrise in den 1980er- und 90er-Jahren verstarben, bereits eingeebnet. So auch im Falle des Filmverleihers und bedeutenden Förderers des lesbisch-schwulen Kinos, Manfred Salzgeber.
Damit die Erinnerung und damit auch queere Geschichte bewahrt wird und im besten Falle ins allgemeine Gedächtnis eingeht, braucht es auch private Initiative.
Zwar gibt es auf dem Alten St. Matthäus-Kirchhof bereits ein Gemeinschaftsgrab für Menschen mit HIV/Aids, doch das Bedürfnis nach einer kollektiven Erinnerungsstätte, wie es sie etwa in Frankfurt/ Main, Amsterdam, Dublin oder San Francisco gibt, scheint groß. Die Berliner Aidshilfe hat deshalb im September eine Veranstaltungsreihe gestartet, um der Frage nachzugehen, wie an Aids Verstorbene erinnert werden sollte, damit auch deren Geschichte(n) weitergeben werden könnte(n). Damit die Erinnerung und damit auch queere Geschichte bewahrt wird und im besten Falle ins allgemeine Gedächtnis eingeht, braucht es auch private Initiative.
Die Gedenkplatte für Manfred Salzgeber hat einige Meter von der einstigen Ruhestätte einen neuen Ort gefunden und liegt nun auf dem Grab des Fotografen Jürgen Baldiga. Für die Künstlerin Gertrude Sandmann und deren Lebensgefährtin, die Akrobatin Tamara Streck, hat ein Freundinnenkreis um Traude Bührmann ein neues Grabzeichen für das bereits eingeebnete Grab aufstellen lassen. Auch die Stolpersteine für queere Nazi-Opfer, wie die in Ausschwitz ermordete Alice Carlé und den im KZ Ravensbrück zu Tode gekommenen Gustav Herzberg, gäbe es ohne privates Engagement nicht. Egal also, ob Straßen(um)benennung, Ehrengrab oder Briefmarke: Am Anfang steht stets eine Anregung von Einzelpersonen an die zuständigen Stellen.
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