Queer im Holocaust: Die unsichtbaren Opfer des Nationalsozialismus

Am 8. Mai wird der 80. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus begangen. Doch noch immer bleiben viele Geschichten unerzählt – etwa die queerer NS-Opfer. SIEGESSÄULE-Autor Tim Schomann sprach mit der Forscherin Anna Hájková über die Herausforderungen der Aufarbeitung
Der 8. Mai 1945 gilt als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus in Europa durch die alliierten Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion. Er markiert die Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit die Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Viele Konzentrationslager wie Dachau, Bergen-Belsen, Sachsenhausen oder Auschwitz, in denen die systematische Ermordung von jüdischen Mitbürger*innen und politisch Verfolgten stattfand, konnten bereits mehrere Wochen oder Monate zuvor befreit werden.
Auch queere Insass*innen konnten so vor der sicheren Vernichtung gerettet werden. Doch die Geschichten queerer befreiter oder ermordeter Menschen werden kaum oder gar nicht erzählt, wie die britisch-tschechische Historikerin Anna Hájková berichtet. Sie forscht zu jüdischer und queerer Geschichte. Die überlebenden Opfer des NS-Terrorregimes trugen nicht nur gesundheitliche Schäden davon, wie sie betont. Wurden sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt und interniert, hatten sie zudem kein Anrecht auf Entschädigung, da sie sich nach dem geltenden Paragrafen 175 strafbar gemacht hatten.
Dieses Gesetz, das bis 1994 seine Gültigkeit in Deutschland besaß, kriminalisierte vor allem schwule und bisexuelle Männer, aber auch einige trans* Personen waren betroffen. Damit erfolgte auch keine Wiedergutmachung aufgrund von Verfolgung wegen der sexuellen Orientierung. Ebenfalls wiegt für Anna Hájková aber die Tatsache, dass aufgrund dieser gesetzlichen und gesellschaftlichen Stigmatisierung die Opfer nicht in die Lage versetzt wurden, über die ihnen angetanen Gräuel und das erlebte Unrecht zu berichten. „Zeugnis ablegen ist ein wichtiger sozialer Akt“, so Hájková. Dass dies aufgrund der weiterhin bestehenden gesellschaftlichen Ächtung von homo- und bisexueller Orientierung auch nach 1945 nicht geschehen konnte, ist ein weiteres Unrecht, das diesen Opfern angetan wurde.
Damit kam es bis weit in unsere Gegenwart zu einer Ausradierung ihrer Geschichten und somit auch queerer Geschichte zur Zeit der Nazi-Herrschaft in Deutschland. Die Biografien der Verfolgten und der Ermordeten fanden in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus schlicht nicht statt. Die Chance, dies heute noch in Form von Augenzeugenberichten zu tun, sei laut Hájková vertan. Die betroffenen Personen müssten mittlerweile auf die Hundert zugehen. Und ihr – die sie auf diesem Themenfeld forscht – seien keine queeren Überlebenden bekannt, die berichten könnten. So bleibt vor allem die kleinteilige historische Arbeit, vorhandene Archive nach Hinweisen und Biografien zu durchsuchen.
„Jüdisch“ und „queer“ wurde getrennt gedacht
Erschwerend kommt hinzu, dass gerade die Geschichten queerer, bisexueller und lesbischer Frauen noch komplizierter zu finden und nachzuweisen sind. Lesben wurden zwar nicht systematisch für ihre sexuelle Orientierung verfolgt, doch als „Asoziale“, politische Gefangene oder für ihr Jüdischsein in Konzentrationslagern inhaftiert.
Wenn lesbische Holocaust-Überlebende im Nachhinein ihre Geschichte erzählten, herrschte sowohl bei ihnen selbst als auch bei den Fragenstellenden internalisierte Homophobie. So kommt es vor, dass in einigen Geschichten die wichtigste und engste Person einer weiblichen Insassin eine andere Frau war, welche allerdings in der Archivierung als „beste Freundin“ heruntergespielt wurde.
Anna Hájková zeigt auf, wie „jüdisch“ und „queer“ lange Zeit getrennt gedacht wurde und so queeres Verlangen unter Holocaustopfern in homophobem Framing dargestellt oder erst gar nicht thematisiert wurde.
„Es gibt unheimlich viele Quellen, mit denen man arbeiten kann. Es gibt aber zu wenig Forschende, die daran arbeiten.“
„Es gibt unheimlich viele Quellen, mit denen man arbeiten kann. Es gibt aber zu wenig Forschende, die daran arbeiten“, so Hájková. Die Geschichte ist da – in Archiven –, aber sie wartet darauf, von Menschden erforscht und erzählt zu werden. Damit meint Hájková explizit eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Darstellung.
Zwar gibt es gerade im Social-Media-Bereich einige Akteur*innen, die sich mit queerer Historie beschäftigen – auch konkret mit der NS-Zeit. Dies geschieht jedoch häufig in anekdotischer Weise, angepasst an die Bedürfnisse der Konsumentinnen von YouTube, TikTok und Co. Ein weiterer Kritikpunkt lautet, dass zwar wissenschaftliche Erkenntnisse genutzt, die Quellen jedoch nicht angegeben würden, wodurch die zugrunde liegende Forschungsarbeit unsichtbar gemacht werde.
Fehlende finanzielle Ressourcen
Um all das vorhandene Wissen, die Berichte und Biografien zu bergen, aufzuarbeiten und damit queere Geschichte während des Dritten Reichs zu erforschen, braucht es laut Hájková vor allem finanzielle Ressourcen. Auch in Form von Stipendien, die über mehrere Jahre finanziert seien, um sie ausreichend attraktiv für Historiker*innen zu machen. Was die Forschungslandschaft zu genau jenen Themen angeht, sieht sie vor allem Großbritannien, Australien und Kanada als Vorbilder, an denen sich Deutschland ein Beispiel nehmen könne.
Auch die USA sah sie bis zum Herbst 2024 in einer Vorreiterrolle. Doch unter der erneuten Regierung eines Präsidenten Donald Trump sieht sie dies als äußerst gefährdet an. Die Angriffe auf die Universitätslandschaft – wie besonders das Beispiel der Harvard-Universität zeigt, die sich gegen die politische Vereinnahmung durch Trump zur Wehr setzt – scheinen das zu unterstreichen. Dies und die Angst vieler Forschender, überhaupt noch in die USA einzureisen, lassen den enormen Schaden erahnen, der sich jetzt schon in Bezug auf unabhängige Forschungsarbeit – nicht nur zu queeren Themen – abzeichnet.
„Menschen ohne Geschichte sind Staub“
„Was bleibt nach Donald Trump?“, ist die besorgte Frage, die Hájková stellt. „Zeugnis ablegen“ – das ist ein Punkt, der Anna Hájková wichtig ist. Zeugnisse queerer Geschichte – nicht nur, aber eben besonders während der NS-Zeit, um Biografien sichtbar und erlebbar zu machen. Denn „Menschen ohne Geschichte sind Staub“, sagt sie. Und so lautet auch der Titel ihres Buches, das bereits 2021 während der Corona-Pandemie erschien. Seitdem sind viele Forscher*innen ihrem Beispiel gefolgt und haben versucht, diese Forschungslücke zu füllen. So hat auch Hájková ihr Buch überarbeitet und 2024 eine zweite Auflage veröffentlicht, die die Unterzeile „Queeres Verlangen im Holocaust“ trägt. Ein Sachbuch, in dessen Zentrum das Erinnern an queere Opfer des Nationalsozialismus und ihr Begehren in all seiner Ambivalenz steht – ein Baustein auf dem Weg, queere Geschichte und Geschichten nicht dem Vergessen anheimzustellen.
Auch am 80. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Hitler-Regime zeigt sich, dass noch längst nicht alles erforscht und erzählt ist. Noch immer ist es eine große und ungelöste Aufgabe, Biografien dem Staub des Vergessens zu entreißen und den vielen Opfern zu gedenken, die entrechtet, verfolgt und ermordet wurden – und denen bisher nicht die Möglichkeit gegeben wurde, sichtbar zu werden.

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