Reportage

„Systemversagen“ – wie Trans-Gesundheit zum Hürdenlauf wird

3. Sept. 2025 Jeanne Spada
Bild: Julia Bernhard

Bürokratie, lange Wartezeiten, fehlende rechtliche Klarheit: Für trans und nicht binäre Menschen ist medizinische Versorgung noch immer ein Hürdenlauf. Derweil soll nächste Woche in Berlin eine transfeindliche Konferenz stattfinden. Wir sprachen mit Beratungsstellen wie LesMigraS und TrIQ über Diskriminierung, strukturelle Probleme und deren existenzielle Folgen

„Es hat mindestens zwei Jahre gedauert, bevor er die Hormontherapie beginnen konnte“, erinnert sich Clara von der Lesbenberatung/ LesMigraS auf die Frage der SIEGESSÄULE nach besonders schweren Beratungsfällen. Der zu beratende trans Jugendliche habe bei LesMigraS Unterstützung erhalten, nachdem ihm Rassismus und eine psychiatrische Diagnose die Transition erschwert hatten. Bei einer anderen Jugendlichen aus dem Autismusspektrum habe es sogar drei Jahre gedauert – auch bis nach der Volljährigkeit. Die Eltern wollten unterstützen, aber hatten zu wenig finanzielle Ressourcen, und ein Psychiater traute sich die trans Diagnose nicht zu.

Allgemeiner berichtet Clara aus ihrer Beratungserfahrung von überlaufenen Praxen, langen Wartezeiten und auch einem ungeklärten Aufenthaltsstatus als Hürden, trans Personen die von ihnen gewünschte medizinische Versorgung zukommen zu lassen.

Entwürdigende Bedingungen

Louis und Ray von TransInterQueer e. V. (TrIQ), der Berliner Organisation von und für trans*, inter* und nicht binäre Personen, berichten Ähnliches: „Da versagt das System“, meint Louis im Hinblick auf die Rolle von Krankenkassen und Behörden im Gespräch mit SIEGESSÄULE. Ray ergänzt: „In letzter Zeit stellen Krankenkassen viele entwürdigende Bedingungen.“ Hautarztbefunde für Haarentfernung, Gewichtsverlust vor OP und auch eine „stabile Psyche“ sollen nachgewiesen werden. Leiden am „falschen“ Körper wird oft als psychische Instabilität gewertet – und so Transsein selbst zur Hürde.

State of the Art ist das nicht. Auf Nachfrage von SIEGESSÄULE erzählt Dr. Timo Nieder: „In den letzten Jahren ist die Zahl der Studien zu Transgender Care stark angestiegen.“ Dr. Nieder aktualisiert derzeit die Leitlinie zu trans Gesundheit mit der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Diese sollte eigentlich schon 2023 neue Empfehlungen geben, doch es gab mehr Studien als erwartet, die zu berücksichtigen waren.

„In den letzten Jahren ist die Zahl der Studien zu Transgender Care stark angestiegen.“

Nun soll die Leitlinie spätestens zum August 2027 aktualisiert sein und Kliniken und Praxen bei der Zusammenarbeit zu Themen wie Hormon- und Psychotherapie, Operationen und weiteren Behandlungen helfen. Dr. Nieder spricht von Schnittstellen, Sensibilisierung für Nichtbinarität und einem besseren Versorgungsnetz. Leicht umzusetzen seien die neuen Empfehlungen aber nicht.

Laut einer anderen, im März erschienenen AWMF-Leitlinie sollen trans Jugendliche „kritischen Rückfragen“ standhalten und dadurch eine stabile Identität beweisen. Darin ist auch zu lesen, dass eine seriöse Forschung über die Wirkung von Hormonen auf Teenager fehle.

Für volljährige Menschen ist die Situation etwas einfacher. Einige Operationen und Hormontherapien übernehmen die Krankenkassen nach alten Regelungen. Diese decken jedoch non-binäre Menschen nicht ab. Und hier wird es schnell wirr: Operationen für ein feminineres Erscheinungsbild gelten oft als Schönheits-OPs, die die Kasse nicht zahlt – mit der Ausnahme, wenn bestimmte Körperteile „zu maskulin“ sind. Wie das zu beweisen ist, bleibt aber unklar. Teils genügte den Krankenkassen hierfür ein Gutachten vom Medizinischen Dienst (MD) nach einer Richtlinie von 2020. Laut Pressestelle des MD Bund werden diese Richtlinien jedoch wegen fehlender Gesetze nicht erneuert.

Ein Urteil, bei dem es zunächst um Mastektomie bei nicht binären Menschen ging, schürte Hoffnung. Doch das Gericht wollte 2023 nicht beurteilen, ob die Operation von den Krankenkassen zu zahlen sei. Es sei nicht richtig, wie früher nach Leiden oder Geschlecht zu urteilen. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), das oberste Gremium für neue Kassenleistungen, solle entscheiden.

Allerdings teilte der GBA diese Ansicht nicht. „Eine Änderung im Gesetz wäre die bessere Lösung“, so Ann Marini, Pressesprecherin des GBA. Der neuen Regierung wurde das empfohlen, unter der Ampel arbeitete man daran. Beim Gesundheitsministerium heißt es aktuell auf Nachfrage nur: „Es bleibt abzuwarten.“

Das Urteil von 2023 sollte auch die Weiterversorgung von trans Menschen sichern. Was das heißt, wird verschieden ausgelegt: Gerichte haben die Hürden für Anträge nach 2023 höhergelegt. Grundsätzlich wurde aber anerkannt, dass trans Personen versorgt werden müssen – nur womit, ist rechtlich kaum geklärt.

Vom Spitzenverband der gesetzlichen Kassen kam der Beschluss, weiterzuverfahren wie bisher. Zur rechtlichen Absicherung fordern Kassen mehr Belege. „Die Kassen wollten sich Anfang des Jahres Genehmigung für alle Leistungen vorbehalten, aber Proteste haben das vorerst verhindert“, erzählt der Arzt Christoph Schuler im SIEGESSÄULE-Interview, der schon seit 25 Jahren trans Menschen in Berlin behandelt. Auch Ärzt*innen fehle Rechtssicherheit.

„Transition muss im Sozialgesetz verankert werden.“

Ein Urteil aus dem Jahr 2020 erschwert indirekt Epilation: Vorher wurden die Kosten für eine Enthaarung in Kosmetikstudios oft von der Kasse übernommen. Nun muss die Behandlung in einer Arztpraxis erfolgen. Laut Petra Weitzel von der Deutschen Gesellschaft für Trans- und Intersexualität (DGTI) lohnt sich dies für Artzpraxen aber kaum. Eine Unterversorgung von vor allem trans Frauen sei so vorprogrammiert. „Transition muss im Sozialgesetz verankert werden“, fordert Petra Weitzel.

Beleidigung im Wartezimmer

Auch an anderer Stelle wird trans Gesundheit zum Hürdenlauf: Bei LesMigraS werden laut Clara immer häufiger Diskriminierungen im Gesundheitssystem gemeldet. Sie spricht von falscher Anrede im Wartezimmer, offener Beleidigung und schwindenden Therapieplätzen, die oft für den Stabilitätsbeweis nötig sind. In einem Fall kam erschwerend dazu, dass kaum Platz in einer rollstuhlgerechten Praxis zu finden war. Zunehmende Unsicherheit aufgrund unklarer oder fehlender Gerichtsurteile bemerkt auch Louis in der Beratungspraxis von TrIQ. Ray betont, dass Vorsorge gegen sexuell übertragbare Krankheiten für trans Männer schwerer zu bekommen sei.

„Gerade in Krisen kann Zurückweisung im Medizinsystem fatale Folgen haben.“

Beratende stehen oft vor der Frage, wohin sie Menschen schicken können, auch weil sich die Wartelisten inklusiver Praxen füllen. „Gerade in Krisen“, so Clara, „kann Zurückweisung im Medizinsystem fatale Folgen haben.“ Louis sieht in einem Fall besonderes Systemversagen: Eine Rat suchende Person verlor durch Schulden die Wohnung, die Kasse zahlte nur noch für Notfälle. Das Jobcenter half ihr nicht ohne Kontoauszug, ein Kontozugriff war nur mit festem Wohnsitz möglich. Bevor sie wieder die benötigten Hormone bekam, war viel Zeit vergangen.

Auch trans Geflüchtete haben oft keine Versicherung. Seit 2024 haben Asylsuchende erst nach drei Jahren Anspruch. Bei TrIQ gab es merklich mehr Beratungsanfragen, einige schon aus Geflüchtetenlagern heraus auf dem Weg nach Berlin.

LesMigraS berät in letzter Zeit häufiger Frauenhäuser zu trans Personen, die dort Schutz vor Gewalt suchen. 15 Plätze gibt es in Ber- lin für sie. Hilfen für Geflüchtete seien bei vielen Beratungsstellen seit 2024 verstetigt, bestätigt die Senatsverwaltung (SenASGIVA). Sie nennt einige Trans-Beratungsstellen, viele für Frauen stehen offen, aber Hilfe bei Rechts- und Krankenkassenfragen kann sie keine nennen: „Bei Themen, die die Expertise übersteigen, wird an andere Stellen im Hilfesystem verwiesen.“

Für trans Menschen sieht die Lage der Gesundheitsversorgung nicht rosig aus, ist aber auch nicht zutiefst finster. Mit der Jugend-Leitlinie können gute Behandelnde so viel ausrichten, wie schlechte anrichten können. Auch für Erwachsene gibt es Hoffnung: Mehr Forschung, Aufklärung und Behandlung zeichnen sich für die Zukunft ab. Rechtlich und politisch muss sich aber noch einiges ändern, damit die Versorgung von trans Personen kein Problemthema bleibt.

Bild: Julia Bernhard

Transfeindliche pseudowissenschaftliche Konferenz

Derweil arbeitet die US-amerikanische „Society for Evidence-Based Gender Medicine“ (SEGM) daran, Jugendlichen den Zugang zu Medizin zu erschweren. Vom 11. bis 14. September 2025 veranstaltet sie eine Konferenz in Berlin, deren genauer Ort bislang unbekannt ist. Das geht aus der im Juni veröffentlichten Einladung auf Webseiten mehrerer psychiatrischer Fachgesellschaften hervor, die die DGTI mitteilte.

Hinter dem seriös klingenden Titel werden queerfeindliche Thesen und widerlegte Behauptungen über TIN* Menschen verbreitet. Die SEGM veranstaltet in Berlin den Kongress Youth Gender Distress: Etiologies, Ethics, Evidence, and Psychotherapy. Dazu ist das Who-is-who genderfeindlicher Prominenz eingeladen.

Der Psychologe John Michael Bailey sortierte schon vor über 20 Jahren trans Lesben und Bis als heterosexuell „autogynephil“ ein. Auch bisexuelle Männer erklärte er mit Erektionsmessung für unecht, trans Männer wurden zu Opfern von „Rapid-Onset Gender Dysphoria“, also plötzlichem Transsein, mit dem sich junge Menschen nach gängiger Meinung im Internet anstecken. Die Ex-Philosophin Kathleen Stock wurde mit zweigeschlechtlichen Kurzschlüssen im Buch „Material Girls“ berühmt und gab nach viel Kritik auch mit Premier Liz Truss’ Solidarität ihren Rücktritt als Professorin bekannt. Dann gründete sie mit Julie Bindel, die für die Daily Mail Trumps Politik als Sieg der Vernunft feierte, ein rein cis-lesbisches Projekt, das Queer-Aktivist*innen bei einem Protest im Juli als antifeministisch und „trans-exkludierende Clowns“ betitelten. Außerdem soll Jamie Reed sprechen, deren Bericht aus einer Trans-Klinik in den USA mit zu Behandlungsverboten in Missouri führte. Sie berichtete über Monatsblutungen und Genitalien von Jugendlichen, um sie vor „Gendermedizin“ zu schützen.

Aus Deutschland sind Florian Zepf, Chefkinderarzt am Uni-Klinikum Jena, und Tobias Banaschewski, ärztlicher Direktor einer Klinik in Mannheim vertreten. Beide übten leere Begriffskritik an Hormontherapie, nachdem britische Studien feststellten, dass Teenager nicht ins Schema passen, das für Studien mit Placebos ausgelegt ist. So kamen sie zum Schluss, dass belastbare Beweise für den Einfluss von Hormonen auf Pubertierende fehlen. Daneben sprechen aus der klinischen Praxis ausgetretene Psycholog*innen, mehrere Autor*innen von Büchern über erfundene trans Kinder und ein Spezialist für die Ideologie queerer sozialer Gerechtigkeit, der Genderdysphorie als affektive Störung einordnet und zwar nicht wegtherapieren, aber in Therapien „psychodynamisch erforschen“ will.

Organisiert wird der Kongress laut Einladung von Sarah Mittermaier, die in Kanada psychiatrische Zweifel an online gesammelten Selbstzweifeln von trans Menschen veröffentlichte. In Foren wird sie mit dem Pseudonym Eliza Mondegreen identifiziert. Unter Schlagwörtern wie „Unspeakable“, „Unherd“ und „Freethinker“ produziert sie seit Jahren im Netz ihr Selbstbild als rebellische Querdenkerin gegen den „Trans-Mainstream“.

„Wer sich dort einbringt, macht sich mitschuldig daran, eine diskriminierungsfreie medizinische Versorgung queerer Menschen zu untergraben.“

Die LGBTIQ*-Community reagiert mit scharfer Kritik auf die Konferenz, etwa der LSVD+ Berlin-Brandenburg. „Wir warnen Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Wissenschaftler*innen ausdrücklich davor, an dieser Konferenz teilzunehmen. Wer sich dort einbringt, macht sich mitschuldig daran, eine diskriminierungsfreie medizinische Versorgung queerer Menschen zu untergraben,“ erklärt Geschäftsführer Florian Winkler-Schwarz in einer Pressemitteilung. „Stattdessen braucht es ein klares Bekenntnis zu einer Gesundheitsversorgung, die die Selbstbestimmung und Würde von allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen respektiert."

Dgti-Vorstandsmitglied Cornelia Kost verweist auf eine Empfehlung des Deutschen Ethikrats von 2020: Kinder und Jugendliche müssten in Fragen der eigenen Identität ihrem Alter entsprechend gehört werden. „Diese Grundsätze sehen wir durch Veranstaltungen, die Kindern und Jugendlichen die Transition verbieten wollen in besonderer Art und Weise verletzt.“

Als Ziel deklariert die SEGM im Programm „evidenz-informierte Gesundheitsversorgung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene“. Belege dafür waren nicht zu finden, aber eine FAQ auf der Website will „transfeindlich“ als persönlichen Angriff verstehen.

Folge uns auf Instagram

#Gesundheit#Gesundheitssystem#LesMigraS#Reportage#TIN*#Trans*#Transgender#TriQ

Das Siegessäule Logo
Das Branchenbuch mit Haltung
Queer. Divers. Überzeugend.