Von Koch- und Äpfel-Fetischist*innen: Wie entstehen Kinks?

Was den einen bizarr erscheint, bedeutet für andere pure Lust: Warum haben manche Menschen so spezifische Kinks – etwa, anderen beim Apfelessen zuzusehen –, während andere Kinks wie Leder oder Puppy-Play weit verbreitet sind? SIEGESSÄULE-Kolumnist und Soziologe Jeff Mannes erklärt
Es passierte, während er in mir war und kräftig hämmerte: „Ja, oh ja! … ICH WILL NACH HAUSE KOMMEN UND FÜR DICH KOCHEN!“ Ich stutzte, versuchte mir aber nichts anmerken zu lassen. Er will was? „So geil … ich werde für dich kochen!!!“ Glücklicherweise lag ich auf dem Bauch (und er auf mir drauf) und konnte so mein Gesicht im Kissen vergraben, um das unkontrollierbare Lachen zu verbergen. No Kink-Shaming – die Idee, bekocht zu werden, fand ich großartig. Aber so unvermittelt? Die Komik der Situation hat mich einfach überrollt. Das war definitiv ein Kink, der mir bis dahin noch nicht begegnet war.
Doch was macht uns eigentlich geil und warum? Diese Frage beschäftigt mich schon seit meiner Jugend. Warum lassen sich manche beim Sex gerne schlagen, andere werden von Pisse erregt, wieder andere stöhnen ekstatisch, wenn sie in Hundemasken schlüpfen – oder wenn sie Zahnarztrechnungen fremder Menschen bezahlen dürfen?
Ja, auch Letzteres ist mir schon begegnet. Bevor du jetzt aufgeregt die Suche nach dieser Person startest: Ihre größte Fantasie war es, zuzusehen, wie jemand ohne Narkose eine Zahn-OP über sich ergehen lässt.
Ein anderes Mal traf ich jemanden, der es heiß fand, anderen beim Apfelessen zuzusehen – aber nur bei grünen Äpfeln! Und dann war da noch der Typ, der davon träumte, in Atomkraftwerken zu masturbieren. Angeblich wurde er tatsächlich schon einmal aus einem AKW geworfen – Tag der offenen Tür, versteht sich.
Nebenprodukt der Sozialisierung
Woher kommen solche Fantasien? Als Soziologe habe ich dafür eine von vielen möglichen Erklärungen: Ich sehe Kinks als „Nebenprodukt“ unserer Sozialisierung. Dabei unterscheide ich zwischen zwei Formen: soziale Kinks und persönliche Kinks.
Soziale Kinks sind sexuelle Vorlieben, die innerhalb einer Kultur vergleichsweise häufig vorkommen – in unserer etwa Puppy Play, Bondage oder Fäkal-Sex. Persönliche Kinks dagegen sind extrem selten, manchmal nur bei einer einzigen Person zu finden: das Apfelessen, die Zahnarztrechnungen, die Atomkraftwerke. Oder eben der Koch-Kink.
Beide Formen können natürlich aus individueller Biografie und Sozialisierung stammen. Aber die sozialen Kinks haben zusätzlich einen breiten, kulturellen Ursprung. Ein gutes Beispiel ist Puppy Play.
Die westliche Philosophiegeschichte ist seit Jahrhunderten durchzogen vom Konstrukt des Mensch-Tier- bzw. Kultur-Natur-Gegensatzes: Von der Antike über die monotheistischen Religionen bis hin zur Aufklärung haben sich Denker*innen mit der Frage beschäftigt, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Biologisch sind wir schlicht eine Tierart unter vielen. Doch kulturell gilt: „Tier“ ist alles vom Regenwurm bis zum Gorilla, nur eben nicht der Mensch. Obwohl der Gorilla uns näher steht als der Regenwurm. Der Mensch wird hier zum Gegenteil des Tiers: zivilisiert statt wild, rational statt instinktgetrieben, Teil der geistig-kulturellen Welt statt der materiell-natürlichen. Die Sozialwissenschaftlerin Birgit Mütherich brachte es einmal so auf den Punkt: „Menschen sind Tiere – und gleichzeitig das Gegenteil von Tieren.“
„Menschen sind Tiere – und gleichzeitig das Gegenteil von Tieren.“
Die dominante Definition des Tiers ist nicht die biologische, sondern die kulturelle. Wir alle lernen in unserer Sozialisierung: Der Mensch ist das Gegenteil des Tiers und deshalb müssen wir alles verstecken und unterdrücken, was uns an unsere eigene „Tierlichkeit“ erinnert, an unsere Zugehörigkeit zur materiellen, natürlichen Welt mit all seinen biologischen und körperlichen Prozessen. Schon als Kinder lernen wir, uns „zivilisiert“ zu verhalten, „nicht wie ein Tier“. Und vor allem: unsere Sexualität zu kontrollieren.
Eine BBC-Dokumentation fasste es einmal so zusammen: „Das Tier im Menschen – auf Sex programmiert.“ Nicht der Mensch will Sex, sondern das Tier in ihm. „Zivilisiert“ zu sein heißt, genau dieses Tier zu bändigen.
Doch dieser Druck bleibt nicht ohne Folgen. Alles, was wir ständig unterdrücken, entwickelt eine eigene Anziehungskraft. Genau hier liegt ein möglicher Ursprung von Puppy Play: eine Form des Eskapismus, eine Befreiung von diesem Zwang, das Tierische zu verleugnen, indem man es gerade zulässt und selbst zum Tier wird. So entstehen Kinks: als Nebenprodukt der Sozialisierung. Je strenger das Tabu, desto größer der Reiz, es zu brechen.
Kinks als „Anti-Habitus“
Der Soziologe Pierre Bourdieu spricht vom Habitus: den tief eingeschriebenen Mustern, wie wir denken, fühlen, handeln. Kinks könnte man als Anti-Habitus verstehen: das erotische Umschlagen des Verbotenen ins Erregende. Wer gelernt hat, dass man „nicht wie ein Tier“ sein darf, den kann es später erregen, wie ein Hund zu bellen, sich anpissen zu lassen oder „wild“ zu ficken. Und wer früh verinnerlicht, dass Kontrollverlust Gefahr bedeutet, kann es erregend finden, diese Kontrolle in einem einvernehmlichen Spiel abzugeben.
Michel Foucault wiederum beschrieb die allgegenwärtige Biomacht: das Netz gesellschaftlicher Kontrolle, das bis in unsere Körper hineinwirkt. Wir überwachen uns selbst – vom passenden Outfit bis zum wohlriechenden, parfümierten Körper. Aber niemand hält diesem Druck dauerhaft stand. Der Kink wird zum Ventil: ein Moment der Befreiung, wenn wir genau das tun, was wir nicht tun sollen. Und manche beispielsweise erregt werden, wenn es unter den Achseln ordentlich stinkt.
Manchmal reicht schon die Fantasie. Ein Mann, der Analsex nicht nur wegen der körperlichen Empfindung genießt, sondern weil er sich dabei „entmannt“ fühlt, hat aus einem Tabu einen Kink gemacht. Nicht der Akt selbst erregt, sondern die Überschreitung einer Grenze, die uns seit Kindheit eingeprägt wird.
Kinks sind Ausdruck unserer Kultur: Spiegelbilder ihrer Zwänge
Kinks sind Ausdruck unserer Kultur: Spiegelbilder ihrer Zwänge. Gesellschaften, die Sex ins Private verbannen, produzieren Exhibitionismus. Gesellschaften, die Pisse tabuieren, produzieren Piss-Spiele. Gesellschaften, die Männlichkeit mit Stärke gleichsetzen, produzieren Männer, die erregt sind, wenn sie sich in Strapsen schwach fühlen dürfen.
Man könnte sagen: Jede Gesellschaft erschafft ihre eigenen Kinks. Ohne Tabus keine Tabubrüche. Ohne Druck kein Ventil. Ohne „Normalität“ keine Lust auf Abweichung.
Und vielleicht liegt darin eine Wahrheit, die viel weniger schmutzig ist, als viele glauben: Kinks sind kleine Akte der Freiheit. Sie erinnern uns daran, dass Lust nicht von Natur aus schmutzig ist – sondern erst durch gesellschaftliche Regeln dazu gemacht wird.
Woher der Koch-Kink meines damaligen Sex-Partners kam, weiß ich bis heute nicht. Gekocht hat er jedenfalls nie für mich. Es blieb bei einem One-Night-Stand. Aber das ist ja auch in Ordnung: wir hatten beide unseren Spaß.

Jeff Mannes ist Soziologe, Geschlechterwissenschaftler, Sexualpädagoge und bietet in Berlin Stadtführungen zu Sexualgeschichte, Clubkultur sowie queerer Geschichte an.
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