Kolumne: Bewegungsmelder

Autoritäre Reflexe

26. Juni 2020 Dirk Ludigs
Bild: Marcus Witte
Dirk Ludigs

Die Reaktionen auf eine Satire der queeren Journalist*in Hengameh Yaghoobifarah in der taz machen vor allem deutlich: Die weiße Mehrheitsgesellschaft in Deutschland beharrt auf einer Rassismus-Debatte, die ihr nicht weh tun darf. Das kann nicht gelingen, auch nicht in unserer eigenen Community

Vor einem Jahr hatte ich einen Freund aus Kalifornien zu Gast in Berlin. In den ersten Tagen nach seiner Ankunft hatte ich noch einen größeren Auftrag abzuarbeiten. Also zeigte ich ihm auf dem Netz ein paar Sehenswürdigkeiten in Laufweite, drückte ihm meinen alten Falkplan in die Hand und sagte: „Warum erkundest du nicht schon mal ein bisschen auf eigene Faust?“

Mein Freund zog es vor auf mich zu warten. Zwei Tage lang verließ er das Haus nicht. Er brachte es einfach nicht über sich, allein als Schwarzer Mann durch eine Stadt zu wandern, die er nicht kennt.

Wenn du als Schwarzes Kind in den USA – aber eben nicht nur dort – aufwächst, vor allem als Junge, lernst du, dass zuhause bleiben eine gute Strategie ist, wenn du bis zum Erwachsenwerden überleben willst. Deine Eltern führen dieses Gespräch mit dir. Sie erklären, wie du dich zu verhalten hast, wenn die Polizei dich anhält. Dass du sofort klarmachen musst, dass du keine Gefahr darstellst, dass aber umgekehrt die Polizei eine Gefahr für dein Leben ist.

„Rassismus in Deutschland ist in unserer Vorstellung das Problem einiger weniger Rassisten“

Weiße Deutsche sehen sich gerne auf der richtigen Seite, wenn es, wie in den letzten Wochen wieder, um Polizeigewalt an Schwarzen Menschen in den USA geht. Das passt in unsere Vorstellung, dass rassistische Polizeigewalt vor allem ein amerikanisches Problem ist. Rassismus in Deutschland ist hingegen in unserer Vorstellung das Problem einiger weniger Rassisten, auch in der Polizei.

Schwarze Menschen und Personen of Color wissen das besser. Sie wissen, wie die Schwarze Kundin bei Rossmann neulich, dass die Polizei nicht auf ihrer Seite ist, wenn sie rassistisch angegangen werden. Überrascht darüber sind nur weiße, wenn es ausnahmsweise mal in der Zeitung steht.

Schwarze queere Menschen wissen auch, dass sie nicht auf die Polizei zählen können, wenn sie homo- oder trans*phob angegriffen werden. Das ging einem Freund aus Kamerun so, der mich um Hilfe bat, weil er sich bei der Polizei beschweren wollte. Zuvor hatte die Schwarze Besitzerin eines afrikanischen Clubs ihn homophob beleidigt und ihm den Eintritt verwehrt. Die eintreffende Polizei wertete den Vorfall als typischen „Zank unter Afrikanern“, und als er darauf bestand Anzeige zu erstatten, machten die Beamten ihm klar, dass sie ihn mitnehmen würden, wenn er jetzt nicht Ruhe gebe.

Da gibst du als Schwarzer Mensch klein bei und als schwuler Schwarzer erst recht. Du hast nämlich Angst, du könntest dich in dieser Nacht in deiner Zelle zufällig „selbst entzünden“, so wie Oury Jalloh, 2005 in Dessau, dessen Tod im Polizeigewahrsam bis heute nicht aufgeklärt ist. Eine reale Angst, um die Schwarze und Personen of Color wissen, eben seit sie kleine Kinder sind.

„Wenn du in Deutschland Schwarz oder Person of Color bist, sind Polizist*innen nicht dein ,Freund und Helfer'"

Real auch in Deutschland. Die Fakten sprechen für sich. Margarete Stokowski hat sie in ihrer glänzenden Kolumne zum gleichen Thema dankenswerterweise zusammengetragen. 159 Schwarze und Personen of Color sind in Deutschland nach Recherchen des Bündnisses „Death in Custody“ seit 1990 in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen. Mehr als fünf pro Jahr. Alle zehn Wochen eine Leiche. Und da sind die körperlichen und seelischen Gewalterfahrungen ohne Todesfolge noch nicht mal auf dem Zettel.

Wenn du in Deutschland Schwarz oder Person of Color bist, sind Polizist*innen nicht dein „Freund und Helfer“ – sie sind eine Bedrohung für deine Freiheit, deine Gesundheit und dein Leben. Immer. Unter die Polizeimütze kannst du nicht gucken.

Vor diesem Hintergrund war es mir zunächst ein Rätsel, wie selbst linke und liberale und ansonsten enge queere Freunde von mir (54 Jahre alt, Journalist, schwul, Cis-Mann, weiß) sich über die Satire in der taz: „All Cops are berufsunfähig“ von Hengameh Yaghoobifarah (29 Jahre alt, Journalist:in, queer, nonbinary, Person of Color) so echauffieren konnten.

Ich hatte den Text mit Schmunzeln gelesen, ja, haha, da dreht Hengameh in der für Hengameh typischen Art den Spieß mal wieder um und serviert einen Augenblick befreiendes Lachen für alle, die im Umgang mit der Polizei in diesem Land grundsätzlich nichts zu lachen haben. Ein Bild aus groben Pinselstrichen, wie Maler sie nutzen, wenn es um den Ausdruck von großen Gefühlen geht. So wie eben die Angst Schwarzer Personen und Personen of Color um ihr Leben im Angesicht der Polizei ein großes Gefühl und reales Alltagsthema ist.

Ganz nebenbei gesagt, kannst du dir bei dem Thema hierzulande den feinen Pinsel ja gar nicht erlauben, wenn du journalistisch Aufmerksamkeit erzeugen willst. Ich meine, 159 Tote! Und das interessiert bis heute wie viele weiße Deutsche?

Mit jedem meiner weißen Freunde, die sich über den Text aufregten, stieg meine Verwunderung. Einen Journalisten-Kollegen habe ich sogar ausgelacht, als er mir erklärte, er habe den Text nicht als Satire erkannt. Wie sonderbar muss denn ein Hirn funktionieren, dachte ich mir, um die Idee, Polizisten auf dem Müll zu entsorgen, für bare Münze zu nehmen? Was geht in einem Kopf vor, der das nicht als Satire versteht? Was soll es denn sonst sein? Eine Gebrauchsanweisung?

„An dem Punkt schlug mein Staunen in Wut um"

Oh Lorde, wie habe ich mich geirrt! Bis tief in meine eigene queere Community hinein funktionierten die autoritären Reflexe mit einer Vehemenz, als hätte Hengameh ihrerseits eigenhändig 159 Polizist*innen erdrosselt. Queere Autor*innen und Verleger*innen verspürten online selbst dann noch das Bedürfnis, über Hengameh herzuziehen und bestanden darauf, die Qualität des Textes zu debattieren, als säßen sie in einem Erstsemester-Literaturproseminar, da hatte der Innenminister dieses Landes schon eben diese queere Journalist*in of Color in der Bild-Zeitung zum Abschuss freigegeben, ihr Foto wurde munter über Twitter an gewaltbereite Truppen rechter Schläger weitergereicht und sie* nicht mehr nur mit Anzeigen sondern mit Morddrohungen überschüttet.

An dem Punkt schlug mein Staunen in Wut um. Solidarität erfuhr die bedrohte Autor*in von freien Mitarbeiter*innen der taz und von 600 Kulturschaffenden in offenen Briefen und einer Petition. Aus der queeren Community dieser Stadt: Hauptsächlich Schweigen und Ablehnung. Nicht unser Problem!

„Die übergroße Mehrheit weißer Queers sieht Rassismus nicht als ihr Problem"

Das Schlimme ist: Es ist nicht überraschend. In Berlins queerer Community sprechen die Fakten seit Jahren die gleiche Sprache. Noch immer sieht die übergroße Mehrheit weißer Queers Rassismus nicht als ihr Problem. Es ist das Problem von Rassist*innen oder perfider: das der von Rassismus Betroffenen. Und jede leise oder laute Kritik an den Verhältnissen weisen sie zuverlässig mit Empörung zurück:

Wenn Schwarze Menschen und Personen of Color (BPoC) seit Jahren betonen, dass sie sich auf dem Berliner CSD nicht wohl fühlen, unter anderem weil dort die Polizei mitmarschiert: Nicht unser Problem! Wenn BPoC sich in Berlins queeren Orten nicht heimisch fühlen, weil sie permanent exotisiert und oft genug rassistisch angegangen werden: Nicht unser Problem! Wenn die Magnus-Hirschfeld-Stiftung seit vielen Jahren einen rassistischen Straßennamen im Briefkopf trägt: Nicht unser Problem! Wenn in Berlins schwulen Clubs Latinos als Escorts und Afrikaner als Drogendealer gelesen und auch so behandelt werden: Nicht unser Problem, aber guck mal der da drüben ist doch geil, oder? Wir sind seit Jahren offen für BPoC, aber es kommt halt keiner: Gottseidank, nicht länger unser Problem!

„Rassismus frisst sich von klein auf in alle Hirne"

Ein Problem wird es nur, wenn sich ausnahmsweise mal eine Institution dem Ansinnen von BPoC-Gruppen stellt und wie das Schwule Museum verspricht, eine Weltkarte der Kriminalisierung von Queers unter postkolonialen und antirassistischen Gesichtspunkten zu überarbeiten. Aber hoppla, da findet die Empörung kein Ende!

Rassismus ist aber „unser“ Problem, im Hinschauen, wie im Wegschauen. Rassismus ist das Problem weißer Menschen. Und es ist zugegeben ein absolut schmerzhafter Prozess, das nicht nur mal flott so zu formulieren, sondern ernst zu nehmen, als Arbeitsauftrag zu begreifen und die eigene Perspektive zu wechseln. Es tut zugegeben sehr weh, festzustellen, dass das „Aber ich doch nicht!“ eine Lüge ist und das „Ich leider auch!“ die Wahrheit, weil der Rassismus sich von klein auf in alle Hirne frisst und ein System ist, in dem weiße Menschen zu Lasten aller anderen profitieren und in dem es keine neutrale Haltung geben kann.

Wer zu 159 Toten in Polizeigewahrsam schweigt, aber bei einem kleinen Text, der nur aus der alltäglichen Gewalterfahrung heraus verstanden werden kann, den autoritären Reflex verspürt, sich erstmal hinter die Polizei zu stellen, der ist beim Thema Rassismus nicht neutral, sondern Partei.

„Antirassismus hingegen tut weh und muss weh tun“

Solange weiße Menschen, weiße Queers ihre weiße Perspektive nicht hinterfragen, so lange wird Rassismus in Deutschland, in unserer eigenen Community, in unseren Köpfen weiter existieren und weiter Gewalt produzieren. Es wird nicht gelingen, sich des Themas möglichst schmerzfrei, ohne großes Nachdenken und ohne die Hoheit über die Literaturseminare abzugeben zu entledigen. Wer das weiter versucht, wird weiter verlässlich auf der falschen Seite stehen und seinen autoritären Reflexen folgen. Antirassismus hingegen tut weh und muss weh tun.

Was Schwarze Personen und Personen of Color verlässlich nicht mehr hören können, ist der Satz: „Ich bin ja kein Rassist, aber …“ Queeren Menschen kommt das sicher bekannt vor, über das gleiche Phänomen bei Schwulen hat Johannes Kram schon ein Buch geschrieben. Weiße Queers können aus der eigenen Geschichte viel lernen, sobald sie aufhören, sich an den falschen Stellen zu empören. Innehalten, die eigenen autoritären Reflexe hinterfragen, Wahrnehmen, Kennenlernen und Zuhören sind immer ein guter Anfang. Dann müssten am Ende manche Texte gar nicht erst geschrieben werden.

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