„Die Razzia aller Razzien“ – Stonewall-Zeitzeuge Tree zu Gast in Berlin

Am Donnerstag vor dem CSD-Wochenende wurde es historisch im Tipsy Bear: Beim Event „From Christopher Street to Berlin: Stonewall’s Living Legacy“ saßen Gäste aus dem legendären Stonewall Inn auf dem Podium – die Co-Besitzer*innen und Mitbegünder*innen der „Stonewall Inn Gives Back“-Initiative Stacy Lentz und Kurt Kelly sowie der Zeitzeuge Tree, der daran erinnerte, dass der Kern von Pride nicht Party, sondern Widerstand ist
Tree sitzt backstage im Tipsy Bear auf einem gemütlichen Sessel, ein Bier in der Hand, auf seinem Stonewall-T-Shirt trägt er einen Pin: ein pinkes Dreieck, jenes Symbol, das Homosexuelle in den Konzentrationslagern der Nazis tragen mussten und heute als ein Zeichen des queeren Widerstands gilt. „Ich war 1969 Barkeeper im Stonewall Inn. Damals war ich 30 Jahre alt, heute bin ich 86 Jahre jung und ich bin immer noch da“, erzählt er SIEGESSÄULE und lacht.
Er lebt seit 1968 in derselben Wohnung, nicht weit vom Stonewall Inn entfernt. In der Nacht der Stonewall Riots, als die Polizei wieder einmal eine gewalttätige Razzia durchführte, fanden viele bei ihm Zuflucht. Einige Stunden vorher tanzte er noch mit seinen Freunden Frank und Charlie, besser bekannt als Bubbles und Crystal. „Und ich war Tree, schon immer“, sagt er, den Namen habe er seiner explosiven Wachstumskurve in der Schulzeit zu verdanken. „Tree Top (dt.: Baumkrone) nannten sie mich.“

Tree entdeckte die queere Szene rund um Stonewall in New York eher zufällig. „Eines Tages habe ich mich ins Village geschlichen, bin herumgelaufen und habe gesehen, wie diese beiden offensichtlich schwulen Leute in ein Restaurant gingen“, erzählt er. Er folgte ihnen neugierig, noch ahnungslos, was ihn erwarten würde. An der Theke saß er nervös, bis ein Kellner auf ihn zukam und sagte: „Hallo Schatz, was kann ich dir bringen? Ich bin Joan Crawford.“ In diesem Moment, sagt Tree, habe er gewusst: „Ich bin zu Hause.“ Aus dem neugierigen Besucher wurde erst ein Kellner, dann Türsteher, später Barkeeper. Sechs Jahre arbeitete er dort.
Die Bar war einer der wenigen Orte, an denen queere Menschen tanzen durften.
Dabei war die Bar heruntergekommen, betrieben von der Mafia als lukratives Schutzgeld-Modell. Es gab keine Lizenzen, dafür überteuerte Drinks und Jukebox-Musik, 10 Cent pro Schallplatte. Doch sie war einer der wenigen Orte, an denen queere Menschen tanzen durften. Razzien gab es ständig, immer dann, wenn die Mafia die Schutzgelder nicht rechtzeitig bezahlte. „Ich wurde oft in eine Zelle gesteckt.” Er berichtet von erfundenen Namen bei Festnahmen: „Fenwood Fingernail, Donna Bella Bede, Queen Elizabeth.“ Niemand wollte seine Identität preisgeben. Wer erkannt wurde, riskierte Job, Wohnung oder Familie. Die Mafia habe dann „Enid the Hat“, die Anwältin, geschickt, um die Strafe zu bezahlen. Wer Glück hatte, ging am selben Abend wieder zurück in die Bar. Aber am 28. Juni 1969 kam alles anders.
„Wir hatten keine Wahl mehr. Wir mussten uns wehren. Sie versuchten, uns Drogen unterzuschieben. Allein ein Joint hätte fünf Jahre Knast bedeutet.”
Eine Dragqueen mit Opernhandschuhen schrie damals: „Fass mich nicht an, mein Mann ist Polizist!” Ein Ruck ging durch den Raum und alle ahnten, dass wieder einmal Polizisten die Bar stürmten. „Wir wussten allerdings nicht, dass das die Razzia aller Razzien sein würde.” Denn in dieser Nacht hatten es die Polizisten neben queeren Menschen auch auf die Mafiabosse abgesehen. „Wir hatten keine Wahl mehr. Wir mussten uns wehren. Sie versuchten, uns Drogen unterzuschieben. Allein ein Joint hätte fünf Jahre Knast bedeutet.”
„Wir müssen uns gegenseitig schützen“
Nachdem die Polizei Stonewall auf unbestimmte Zeit schließen ließ, wurde es über die Jahre unter anderem zu einem Bagel-Laden und zu einem chinesischen Restaurant. Tree fand Arbeit in anderen (queeren) Bars: im Ninth Circle, bei Julius's. Jahre später übernahmen Stacy und Kurt das Stonewall Inn, renovierten es und baten Tree, zurückzukehren. „Ich bekam einen Anruf: ‚Wir wollen dich zurück, du bist Geschichte.’ Seit 20 Jahren stehe ich nun wieder hinter der Bar im Stonewall Inn.“
Mit Blick auf „den Mann im Weißen Haus mit den gelben Haaren“, wie Tree den US-Präsidenten nennt, warnt er vor einer neuen Welle der Repression: transfeindliche Gesetze, rechte Politiker*innen, Unternehmen, die sich mit Regenbogenlogos schmücken und gleichzeitig den Rechtsruck vorantreiben. „Wir müssen uns gegenseitig schützen“, sagt er. „Wenn du trans*, lesbisch, schwul, bi oder Ally bist: wir gehören zusammen.“
Wie viele, die damals an vorderster Front standen, insbesondere Schwarze trans* Frauen, heute aus der offiziellen Erzählung getilgt werden, zeigt sich drastisch am Beispiel des Stonewall National Monuments: Die Website des National Park Service wurde kürzlich überarbeitet, wobei alle Hinweise auf trans Menschen, das Wort „queer“, sogar das T im Akronym „LGBTQ+“ entfernt wurden. „Ich will 1969 nicht noch einmal erleben“, sagt Tree. Und doch steht vieles wieder auf dem Spiel.
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