Lang lebe die Tunte!

RuPaul? Nein danke. In Berlin lebt die Tunte, kämpferisch und politisch. Ein Kommentar von SIEGESSÄULE-Autor*in Samu/elle Striewski über die Zukunft queerer Kämpfe, das „Wir“ im Aktivismus, Tuntentum und warum Drag mehr als Glamour kann
Wie viele Queers hat es mich kurz nach dem Schulabschluss 2019 nach Berlin gezogen. An der Uni bin ich schnell mit queerfeministischer Theorie und Praxis in Berührung gekommen. Bis zur ersten Begegnung mit der Berliner Drag-Szene hat es etwas länger gedauert. Den ersten Auftritt in Berlin hatte ich 2023, vor zwei Jahren, in Judy LaDivinas fabelhafter Nachwuchsshow „Dragoholic“ – genau ein halbes Jahrhundert nach dem Beginn des legendären Tuntenstreits im Jahr 1973.
Bereits damals ging es, wie Futura Tarot (aka Dirk Ludigs) es zum Jubiläum treffend auf den Punkt brachte, um immer noch aktuelle Strategiefragen, vor allem aber auch darum, wer überhaupt das „Wir“ hinter „unseren“ politischen Strategien ist. Wie spätestens an Begriffen wie FLINTA* oder Homonationalismus und Debatten zu rassistischen Ausschlüssen in der weißen schwul-lesbischen deutschen Bewegung deutlich wird, ist das gar nicht so einfach zu beantworten.
Im Tuntenstreit ging es im Kern um die Frage, wie queere „Identitätspolitik“ sich mit traditioneller, materialistischer „Klassenpolitik“ vereinbaren lässt. Sollte Erstere Letzterer untergeordnet werden (der orthodoxe Marxist), oder gibt es eine eigene Position, die der cis-männlich-schwulen Hegemonie eine radikale trans* Kritik am binären Geschlechtersystem (Cistem) entgegensetzt (die Polit-Tunte)?
Das tuntische Erbe ist politisch
Spulen wir vor, zeigt sich diese politische Mentalität der Tunten prominent während ihrer Hausbesetzung in der Mainzer Straße 4 kurz nach der Wende. Hier wurde nicht nur der heteronormativen Gesellschaft, sondern auch dem Staat und seiner Polizei, dem wuchernden Kapital und den Neonazis der Mittelfinger gezeigt. Anders als Drag in den USA ist das Tuntentum historisch eher weiß und hat die eigene politische Agenda nicht immer konsequent mit Rassismuskritik verbunden. Klar ist dennoch: Mit einer zahmen schwul-lesbischen Bürgerrechtsbewegung, die eine „Ehe für alle“ fordert und einen Kommerz-CSD feiert, hat die Tunte herzlich wenig zu tun.
Haben wir das tuntische Erbe also, samt den besetzten Häusern in Friedrichshain, an die Chai Latte schlürfenden Start-up-Muscle-Gays verloren, die nur an glamourösen Dragqueens, nicht an schäbigen Tunten interessiert sind? Meine eigene Sozialisierung fand in der Drag-Welt statt. Wie wäre ich als Tunte geworden? Wenn die erste Show, die ich gesehen hätte, nicht in einem Drag-Lokal im Pariser Bezirk Marais stattgefunden hätte, sondern auf einem der berüchtigten Treffen queerer Hochschulreferate im Waldschlösschen.
Wenn ich meine ersten eigenen Auftritte nicht auf Drag-Competitions in Greenwich Village, sondern im alten SchwuZ am Mehringdamm gehabt hätte? Wenn ich in die Kunstform nicht in den Nachwehen einer globalen Pandemie durch trans* Artists of Color in Harlem eingeführt worden wäre, sondern durch eine Taufe unter Trümmertunten in einem besetzten Haus?
Es gibt zahllose Tunten und Dragkünstler*innen, die mich inspirieren, die das tuntische Erbe und das subversive Potenzial von Drag weiterleben!
Zum Glück muss ich mich gar nicht entscheiden. Es gibt zahllose Tunten und Dragkünstler*innen, die mich inspirieren, die das tuntische Erbe und das subversive Potenzial von Drag weiterleben! Auch ohne RuPauls Segen, die wirklich spannenden Künstler*innen scheuen sich nicht davor, das royale Duo von Queen und King zu überschreiten und mutig aufs Monströse, Waghalsige, Groteske zuzusteuern. Und das Berliner Kollektiv D.R.A.G. zeigt, die Professionalisierung queerer Kunstformen bedeutet keineswegs, dass sich Künstler*innen entsolidarisieren. Als Publikum fordern wir höchstes Niveau gespickt mit kritischen Impulsen. Warum auch nicht! Im Gegenzug soll es Mindestlöhne, sichere Arbeitsbedingungen und den Abbau von Zugangsbarrieren geben.
In der Vergangenheit sind wir feige in ihrem Windschatten gelaufen; es wird Zeit, den Pionier*innen unserer zukünftigen Revolutionen den Rücken stärken!
Folge uns auf Instagram
#Drag#Kommentar#Tunte#Tuntenstreit